Chester und Quarry Bank Mill

Zum Frühstück auf der Rock Farm bestellte ich Blackpudding und Würstchen als Beilage zum Spiegelei. Zum Entsetzen meines Begleiters, denn die englische Variante der Blutwurst ist so gar nicht sein Fall. Allein der Gedanke daran lässt ihn erschaudern: Das Schweineblut wird mit Getreide gemischt und die Wurst zum Frühstück in der Pfanne angebraten. Auf dem Teller landen schwarze runde Scheiben. Sie sehen aus wie verkohlt, sind aber so wie sie sein sollen. Wenn auch optisch nicht sonderlich attraktiv, fand ich den Blackpudding köstlich und die Würstchen, die mit Sicherheit, wenn nicht direkt von der Farm, so doch zumindest aus lokaler Produktion stammten, waren es auch. Penelope freute sich, in mir einen Freund dieser britischen Spezialität gefunden zu haben. Nicht viele Ausländer würden Blackpudding mögen.

Wir setzten unsere Reise ins 30 Minuten entfernte Chester an der Grenze zu Wales fort. Die Hauptstadt der Grafschaft Chesire am Fluss Dee hat eine Stadtmauer aus römischer Zeit, auf der man einmal um die ganze Stadt wandern kann.

Wir hatten beschlossen, Liverpool und Manchester zu umfahren, obwohl deren Besuch gewiss interessant gewesen wäre. Die Erfahrung lehrte uns jedoch, dass es nervenschonender ist, größere Städte zu meiden. Der dichte Verkehr macht es nicht einfach, den richtigen Weg zu finden. Nicht selten verbringt man einige Zeit mit der Parkplatzsuche, die dann später für die Besichtigung fehlt.

Aus Chesire stammt der älteste englische Käse. Chester wird erstmals im „Domesday Book“, dem von Wilhelm dem Eroberer in Auftrag gegebenen Reichsgrundbuch von 1086 erwähnt. Er wird überwiegend im benachbarten Wales und in Shropshire hergestellt. Das ist auf Gebietsreformen zurückzuführen, die das Territorium von Chesire im Laufe der Jahrhunderte veränderten. Der Chester-Käse war besonders im 18. Jahrhundert sehr beliebt und fand auch in Deutschland seine Liebhaber. Obwohl die Produktion wegen der großen Auswahl von Käsesorten aus dem Ausland sinkt, gehört Chester bis heute zum meistverkauftesten Käse in Großbritannien. Weil sein Name nicht geschützt ist, wird er auch außerhalb des Königreichs produziert.

Das fast 80.000 Einwohner zählende Städtchen Chester wurde vor 2.000 Jahren als Castra Devana von den Römern begründet. Mit ihrer Verteidigunganlage schützen sie den Markt- und Warenumschlagplatz vor einheimischen Kelten. Aus dieser Zeit stammt auch das Wehr vor der Stadtmauer, das den Wasserstand reguliert.

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Nach dem Rückzug der Römer verteidigten die Angelsachsen die Stadt gegen Angriffe von Dänen. Sie errichteten eine Kathedrale, der sie der heiligen Werburgh, der Schutzpatronin von Chester, weihten. Werburgh war die Tochter von König Wulfhere von Mercia. Als ihr Bruder Coenred, König von Mercia wurde, beschloss er, die acht Jahre zuvor verstorbene Ordensfrau umzubetten. Er wollte ein repräsentativeres Grab in der Kirche von Hanbury. Als das Grab geöffnet wurde, fand man Werburghs Leichnam nahezu unverändert vor, was als Zeichen besonderer Gottesgnade gedeutet wurde. Werburgh wurde fortan als Heilige verehrt. Im 9. Jahrhundert verlegte man ihren Schrein nach Chester, um ihn vor Angriffen der dänischen Wikinger zu schützen. Er blieb dort auch nach der Eroberung der Stadt durch die Normannen. Auf den Resten der Kirche ließ der Earl of Chester Hugh Lupus eine Benediktinerabtei errichten. Die Abteikirche wurde später zur Kathedrale ausgebaut. Vom normannischen Stil bis zur viktorianischen Gotik weist sie zahlreiche Stilrichtungen auf. Einen Schrein für die Heilige Werburgh gibt es bis heute.

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Auf das Mittelalter gehen die sogenannten „Rows“ zurück, zweigeschossige Arkadengänge in der Stadtmitte. Es wird angenommen, dass diese Besonderheit nach dem großen Brand 1278 entstand, weil in Chester Platzmangel herrschte. Damals war die Stadt Versorgungszentrum für das Militär im nahen Wales. Es wurde in die Höhe gebaut. Von der ersten Etage kann man in die gegenüberliegenden Geschäfte schauen. Angesichts der wechselnden Wetterverhältnisse ist es verwunderlich, dass Chester die einzige Stadt ist, in der man entlang der Läden und Werkstätten auch bei Regen bummeln kann.

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Das reich verzierte schwarz-weiße Fachwerk ist dem Tudor-Stil nachempfunden, stammt aber vor allem aus viktorianischer Zeit als die Flaniermeilen neu gestaltet wurden. Am östlichen Stadttor findet sich eine reich verzierte Uhr. Sie wurde 1897 zum 60-jährigem Kronjubiläum Königin Victorias installiert.

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Chester ist eine schöne, gemütliche Stadt mit vielen netten kleinen Geschäften und erstaunlich vielen Cafés und kleinen Restaurants. Sie ist etwas größer als Lüneburg und wird von den Menschen der Umgebung (auch aus dem nahen Liverpool) zum entspannten Einkaufen genutzt. Die Auswahl ist den Ansprüchen der Städter entsprechend hoch.

Auf der Autobahn fuhren wir in dichtem Verkehr an Liverpool vorbei zum Flughafen Manchester. Er liegt rund 20 Kilometer südlich des Stadtzentrums.

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Mit über 25 Millionen Passagieren pro Jahr ist er nach den Flughäfen im Großraum London zweitgrößter internationaler Flughafen. Auch der Airbus A380 und die Boeing 747 landen hier. Kein Wunder also, dass bei unserer Anfahrt über die M 56 alle paar Minuten über unseren Köpfen Flieger die Autobahn querten.

In direkter Nachbarschaft befindet sich Quarry Bank Mill, eine Tuchfabrik, die 1784 von Samuel Greg am Ufer des Bollin errichtet wurde.

Greg wurde in Belfast geboren. Mit acht Jahren schickten ihn seine Eltern nach Manchester. Seine beiden Onkel Robert und Nathaniel betrieben dort einen Leinenhandel, dem Greg nach Abschluss der Schule beitrat. Nathaniel war Alkoholiker, sodass Greg gezwungen war, das Geschäft zu übernehmen als Robert starb. Zwei Jahre später begründete der erst 26-jährige in der Nähe des Dorfes Styal Quarry Bank Mill.

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Greg konzentrierte sich zunächst auf das Spinnen von Baumwolle. Die Fabrik wurde mit Wasser- und Dampfkraft betrieben.

Er war bereits ein reicher Mann als er Hannah Lightbody heiratete. Wie er gehörte sie den Unitariern an, einer christlich-reformatorischen Glaubensgemeinschaft. Gemeinsam hatten die beiden sechs Töchter und sieben Söhne. 1796 verlegten sie den Familiensitz von Manchester auf das Fabrikgelände.

Greg war von Anbeginn an einer möglichst effizienten Arbeitsweise interessiert. Beeinflusst von den religiösen Sichtweisen seiner Frau zählte dazu auch das Wohlergehen seiner Arbeiter. Damit war Greg nicht der einzige.

Auch dem bekannten britischen Sozialreformer Robert Owen war es ein Anliegen, die Arbeits- und Lebensbedingungen der Menschen an den Spinnmaschinen und Webstühlen zu verbessern. Owen kam zwar aus einer relativ wohlhabenden Familie, konnte aber nur bis zum 10. Lebensjahr die Schule besuchen. Danach arbeitete er sich vom Lehrling in einem Textilgeschäft bis zum Leiter einer Baumwollspinnerei in Schottland hoch. Dort arbeiteten um 1800 rund 2.000 Menschen, darunter auch 500 Kinder. Owen beobachtete Ungerechtigkeit, Not und moralischen Verfall, der sich destabilisierend auf die gesamte Gesellschaft auswirkte.

Fest davon überzeugt, dass menschenunwürdige Arbeitsbedingungen und Unterdrückung eine effektive Produktion behindern, verkürzte er die Arbeitszeit von 14 auf 10,5 Stunden, richtete eine Kranken- und Arbeitslosenversicherung ein, ließ Wohnungen bauen und räumte den Arbeitern günstige Mieten ein. In eigenen Geschäften konnten sie Produkte für den täglichen Bedarf zu günstigen Preisen erwerben. Daneben setzte Owen sich für ein Verbot der Kinderarbeit ein. Als Minimum forderte er eine Beschränkung der Arbeitszeit auf sechs Stunden für unter 12jährige. Voraussetzung für eine Anstellung sollte eine schulische Grundausbildung sein. Mit Hilfe dieser Maßnahmen konnte Owen die Produktivität seiner Fabrik merklich erhöhen. Die Spinnerei wurde zum Musterbetrieb, den auch Zar Nikolaus und die österreichischen Prinzen Johann und Maximilian besuchten.

Ähnliche Erwägungen lagen Samuel Gregs Bemühungen zugrunde. Auch er errichtete Wohnhäuser. Die Lehrlinge lebten in einem eigenen Lehrlingshaus, zu dem ein Garten für die gesunde Selbstversorgung gehöre. Sonntags bekamen die Kinder Schulunterricht.

Wie Kinder ab neun Jahren dort lebten, davon kann man sich auf einer Führung durch das Lehrlingshaus selbst ein Bild machen. Ältere Damen in Kostümen der Zeit geleiten Gruppen durch das Haus und berichten lebendig aus dem Alltagsleben der Lehrlinge. Zwei bis drei Kinder schliefen in einem Bett, morgens wurden sie mit einer Handvoll zählflüssigem Brei versorgt.

Bis 1847 schickten Eltern aus dem ganzen Land ihre Kinder in Quarry Bank Mill in die Lehre. Die Fabrik galt als besonders human und fortschrittlich. Die Jüngeren mussten „nur“ 10 Stunden arbeiten und wurden nicht, wie in anderen Fabriken üblich, geschlagen, wenn sie nicht die erwartete Leistung erbrachten. Greg beschäftigte sogar einen Arzt, der die Kinder behandelte. Peter Holland, Vater des königlichen Arztes Sir Henry Holland, war der erste Arzt, der in einer Fabrik beschäftigt war.

Abgesehen von Unfällen, die sich in der Fabrik im Umgang mit den gefährlichen Maschinen immer wieder ereigneten, hatten die Kinder Lungenprobleme und geschwollene Augen vom Baumwollstaub. Man behandelte sie nach dem neuesten Stand der Medizin mit Blutegeln…

Sie ersten Erfindungen zur Mechanisierung der Herstellung von Baumwolltuch waren zu dieser Zeit gerade einmal 20 Jahre alt: Darunter auch eine Maschine, die Maulesel (mule) genannt wird. Sie nutzte Wasserkraft, um viele Fäden gleichzeitig zu spinnen. Es war ein gewaltiger Sprung, von einem Spinnrad mit einer Spindel zur mule mit 48 und ab dem Jahr 1800 mit 400 Spulen.

In Quarry Bank Mill werden die alten Maschinen von Freiwilligen des National Trust im Betrieb gezeigt, sodass man einen ganz hervorragenden Einblick in die damalige Zeit bekommt. Das riesige, 1811 installierte Wasserrad treibt die Maschinen mit 100 PS an. Zwar gab es ab Anfang des 19. Jahrhunderts Dampfmaschinen, es war jedoch wirtschaftlicher, die vorhandene Wasserkraft zu nutzen. Außerdem im Museum zu sehen: eine restaurierte Dampfmaschine von 1840.

Hier kann man das, was uns im Geschichtsunterricht über die Industrialisierung vermittelt wurde, tatsächlich mit allen Sinnen wahrnehmen: Man kann die Aufstände der Weber nachvollziehen, die mit ihrer Arbeit an den heimischen Webstühlen nicht Schritt halten konnten mit den Maschinen in den Fabriken. Man kann sich vorstellen, wie immer mehr Menschen arbeitslos wurden und in die Städte drängten. Man kann sich hineinversetzen in ein Leben mit geringem Lohn in engen, feuchten Wohnungen und immer größerer Not. Ebenso kann man aber auch die Euphorie erfassen, die Wohlhabende zu immer gewagteren Spekulationen antrieb. Einige wurden unsagbar reich, andere verloren ihr letztes Geld. Die großen politischen Strömungen der Moderne als Antworten auf die gewaltigen Umwälzungen, die durch die Erfindungen und technischen Neuerungen in dieser Zeit angestoßen wurden – all das wird bei einem Gang durch die Fabrikhallen verständlich.

Als Samuel Greg 1832 nach einer Jagdverletzung gezwungen war, sich zur Ruhe zu setzen, war Quarry Bank Mill die größte Spinnerei in Großbritannien. Nach seinem Tod 1834 übernahmen seine Söhne Robert, John und Samuel Jr. und sein Schwiegersohn William Rathbone das Geschäft.

Robert leitete Quarry Bank Mill und weitete die Spinnerei zur Tuchfabrik aus. Als Abgeordneter von Manchester wurde er ins Parlament gewählt.

John war verantwortlich für die Spinnereien in Lancaster und Caton und wurde Bürgermeister von Lancaster.

Samuel Jr. hatte zunächst die Spinnerei in Bollington geführt, warf aber nach Mißerfolgen das Handtuch und wurde Priester. Die Spinnerei wurde von William Rothbone übernommen, der auch die Fabrik in Bury führte. Seine Frau Elizabeth gründete nach der Cholera-Epidemie in Liverpool die ersten öffentlichen Waschhäuser. Außerdem nahm sie Einfluss auf die Bildungsgesetzgebung des Parlaments.

Der letzte Nachfahre der Familie Alexander Carlton Greg überliess die Fabrik 1939 dem National Trust. Er war mit ganzem Herzen Farmer und nicht daran interessiert, die Tuchfabrik, die noch bis 1959 produzierte, zu leiten.

Aufstieg und Niedergang der Firma Samuel Greg & Co. legen ein eindrucksvolles Zeugnis der Industrialisierung ab. Mit Hilfe von bahnbrechenden Innovationen schuf die Familie in kurzer Zeit ein kleines Imperium. Anfang des 20. Jahrhunderts war der Betrieb der veralteten Spinnereien mit ihren arbeitsintensiven Produktionsmethoden schon nicht mehr rentabel. Ihre Lage in ländlichen Gebieten verhinderte zudem den schnellen Transport der Erzeugnisse. Bis 1914 mussten alle Spinnereien bis auf Quarry Bank Mill schließen.

1980 war die Textilindustrie in Großbritannien fast vollständig verschwunden. Rund 750.000 Arbeitsplätze gingen verloren – mehr als im Bergbau, neben der Eisen- und Stahlindustrie ein weiteres wichtiges Standbein der industriellen Revolution. Textilien werden heute vorwiegend aus der Dritten Welt und den Schwellenländern importiert. Die zunehmende Verwendung von Kunststofffasern brachte auch die Wollindustrie zum Erliegen. Es gibt nur noch wenige kleine Betriebe, die diese Tradition in England fortführen.

Der Besuch von Quarry Bank Mill hat uns richtig begeistert. Es ist ein herausragendes Museum, in das unglaublich viel Mühe und Liebe zum Detail gesteckt wird.

Das alte Fabrikgebäude ist umgeben von Grün. Samuel Greg hatte das Land seinerzeit unter der Bedingung gepachtet, keinen Baum zu beschneiden oder zu fällen. Der herrliche Park und der liebevoll gepflegte Garten geben dem Gelände ein romantisches Flair.

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Als wir das Museum gegen 16 Uhr verließen, waren unsere Köpfe so voll von Eindrücken, dass wir ganz benommen waren. Wir quälten uns durch den dichten Feierabendverkehr an Manchester vorbei. In dem Ballungsraum leben 2,5 Millionen Menschen. Kein Wunder, wenn es in der Rushhour zu Staus kommt.

Unsere nächste Unterkunft lag etwa eine Stunde entfernt außerhalb von Halifax. Damit erreichten wir den Distrikt West Yorkshire. Halifax war früher ein Standort des Maschinenbaus und der Teppichindustrie. Heute werden hier vor allem Süßwaren hergestellt. Die auch bei uns bekannten Bonbons in der Blechdose mit dem Namen „Quality Street“ stammen von hier. Die Stadt hat 800.000 Einwohner und gehört mit Rochdale, Huddersfield und Bradford im weiteren Sinne zur Agglomeration der 100 km entfernten Industriestädte Liverpool, Manchester und Leeds. Wir hatten nun das industrielle Herz des Nordens und damit auch den starken Verkehr hinter uns gelassen und würden bald das umschwärmte und vielgepriesene Seengebiet, den Lake District erreichen, der sich bis an die schottische Grenze erstreckt.

Die Ausläufer von Halifax waren nicht besonders attraktiv. Gewerbegebiete und die für England so charakteristischen endlosen Reihenhaussiedlungen gingen ineinander über. Der Verkehr quälte sich von einem großen Kreisverkehr zum nächsten. Man musste gut aufpassen. Nicht nur, dass man die richtige Ausfahrt erwischte. Oftmals musste man sich auch rechtzeitig vor dem Einfahren in den Kreisverkehr entsprechend einordnen. Im Kreisverkehr selbst gab es keine Chance mehr, die Spur zu ändern und eine andere Ausfahrt zu nehmen.

Wie schon ein paar Tage zuvor zeigte das Navi eine kurze Restfahrtzeit an und wir begannen nervös zu werden: in der Nähe dieses so häßlichen Viertels an der Ausfallstraße sollte das Hotel sein, das ich für diese Nacht ausgesucht hatte? Innerlich stellten wir uns bereits auf einen Fehlgriff ei, schließlich können Bilder im Internet auch einmal täuschen.

Das Navi leitete uns nach links eine Straße hinauf in ein etwas besseres Wohngebiet und dann aus dem Wohngebiet hinaus in eine ländlichere Gegend. Wir fuhren den Hügel hinunter in ein idyllisches Tal mitten auf dem Lande. Ganz unten kuschelte sich schließlich das 350 Jahre alte Shibden Mill Inn an das Ufer eines kleinen Flüsschens.

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Das Landgasthaus im edlen englischen Country-Stil gehört zu einer Reihe mit verschiedenen Preisen ausgezeichneter Gasthäuser der gehobenen Kategorie. Engländer kommen für ein Wochenende hierher, um zu entspannen und Ruhe zu tanken. Man kann wandern oder Feste feiern. Die Gastronomie ist gehoben, in einem der elf schönen Hotelzimmer kann man übernachten.

In dem sehr urigen Restaurant haben wir einen sehr gemütlichen Abend bei exzellentem Essen verbracht. Das ist das England, in das man sich verlieben kann!

Der Peak District

Caroline und Tim versorgten uns morgens nicht nur mit einem guten Frühstück, sie optimierten auch unsere Reiseroute: Statt über die Schnellstraße gelangten wir über eine Landstraße mit schönen Ausblicken in den Peak District.

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Der erste Nationalpark Englands wurde buchstäblich vom Volk erobert: Anfang der 1930er Jahre forderten Wanderer das Recht ein, die Jagdreviere der Aristokratie überhaupt betreten zu dürfen. Die wenigen öffentlichen Wege, die bis dahin durch die Natur führten, wurden von der zunehmenden Zahl der Wanderer stark frequentiert. Es waren vor allem die Arbeiter aus den nahegelegenen Industriestädten, die Wandern als Ausgleich für die schwere Arbeit nutzten. Im April 1932 rief die Sektion Lancashire der British Workers´ Sports Federation ihre Mitglieder auf, den Kinder Scout, die höchste Erhebung des Peak Districts, zu erklimmen. 400 Arbeiter, zumeist Mitglieder der Kommunistischen Partei, machten sich von Westen und Osten auf. Dabei sangen sie „Die Internationale“. Erst auf dem Rückweg konnten sie von Wildhütern des Duke of Devonshire und der herbeigerufenen Polizei aufgehalten werden. Sechs von ihnen wurden wegen Landfriedensbruch verhaftet und zu Gefängnisstrafen von zwei bis sechs Monaten verurteilt. Darunter auch der kommunistische Aktivist Benny Rothmann. Obwohl viele Wandervereine die Aktion verurteilten, führte sie zu einer Welle öffentlicher Sympathie. 1951 wurde das Hochlandgebiet der südlichen Pennines Nationalpark. Zum 50. Jahrestag des „Mass tresspass of Kinder Scout“ wurde 1982 eine Gedenktafel an dem Punkt aufgestellt, an dem Rothmann mit seinen Kameraden gestartet war.

Große Teile des über 1.400 Quadratkilometer großen Gebietes gehören dem National Trust. 2013 hat er mit der Renaturierung von Mooren begonnen. Schätzungen zufolge wird es etwa 50 Jahre dauern, bis das ursprüngliche Landschaftsbild wiederhergestellt ist.

Die Pennines sind ein rund 400 km langes Mittelgebirge. Es verläuft vom Peak District in den Midlands bis zur Grenze von Schottland. Die Berge sind nur zwischen 500 und 900 Meter hoch, dennoch vermitteln Landschaft und Klima den Eindruck, im Gebirge zu sein. Die Gegend ist dünn besiedelt und besteht im Wesentlichen aus Hochmooren und reizvollen grünen Flusstälern. Die Einwohner leben von der Schafzucht und vom Tourismus. Viele Menschen pendeln von den ländlichen Regionen in die nahegelegenen Industriestädte Bradford, Leeds, Sheffield und Manchester.

Weitere Teile der Pennines liegen im Yorkshire-Dales- und im Northumberland-Nationalpark. Die North Pennines, ein Teil der Yorkshire Dales und Bowland sind als Area of Outstanding Natural Beauty klassifiziert.

Auf dem über 400 km langen Fernwanderweg Pennine Way kam man das gesamte Mittelgebirge von Süden nach Norden durchqueren. Die Idee geht zurück auf den Journalisten Tom Stephenson. Vorbild war der Appalachian Trail in den USA. Es sollte 30 Jahre dauern, bis 1965 die letzte Etappe des Weges eröffnet wurde. Die bekannteste Routenbeschreibung ist der Pennine Way Companion von Alfred Wainwright, der 1968 erschien. Der passionierte Wanderer ist vor allem für seine sieben „Pictorial Guide to the Lakeland Fells“ bekannt geworden, die er zwischen 1955 und 1966 verfasste.

Es ist faszinierend, wie rasch man von den industriellen Ballungsgebieten mit den vollen Autobahnen und Schnellstraßen in die scheinbar unberührte Natur gelangt, in der man überwiegend Schafen begegnet. Der Peak District dient 15 Millionen Menschen aus der Agglomeration als Naherholungsgebiet. Mit 20 Millionen Besuchern jährlich gehört er zum meistbesuchtesten Nationalpark in Europa. Auch wenn diese starke Frequentierung sicherlich bei Fauna und Flora ihre Spuren hinterlässt, fällt sie auf der Durchreise kaum auf. Wir haben die Ausblicke über weites, unbebautes Land, über mit Heide bewachsene Moore und windzerzauste Hochebenen sehr genossen.

Eine der wichtigsten Sehenswürdigkeiten des Peak District ist Chatsworth House, das Anwesen des Herzogs von Devonshire, das sich seit über 400 Jahren in Familienbesitz befindet. Im 18. und 19. Jahrhundert gehörte die Familie Cavendish zu den einflussreichsten Familien in England, bis heute genießt sie hohes gesellschaftliches Ansehen. Eine Schwester von John F. Kennedy war mit William John Robert Cavendish verheiratet. Der 12. Herzog von Devonshire, Peregrine Cavendish, ist ein Pferdenarr und Repräsentant der Königin in Ascot.

Schon die Anfahrt zum Chatsworth House ist beeindruckend: von weitem fällt der Blick auf den über 5.000 Hektar großer Park mit altem Baumbestand, in dem unzählige Schafe friedlich grasen. Für den ungehinderten Blick ließ der Herzog im 19. Jahrhundert die Einwohner des Gutes in zwei Dörfer umsiedeln, die eigens für diesen Zweck errichtet wurden. Schon von weitem sieht man die über 80 Meter hohe Wasserfontäne des großen Springbrunnens. Sie wurde für den Besuch von Zar Nikolaus I. von Russland gebaut. Dafür hob man binnen eines halben Jahres einen über 30.000 Quadratmeter großen See aus. Die Fontäne wird durch den natürlichen Wasserdruck eines Teichs erzeugt, der unterhalb liegt. Der Zar hat die beeindruckende Fontäne nie zu Gesicht bekommen – er kam doch nicht nach Chatsworth House.

Das Haus, das einem Palast gleicht, entstand zwischen 1685 und 1707. Wir verzichteten auf eine Besichtigung des Anwesens. Für die repräsentativen Räumlichkeiten mit einer wertvollen Gemäldesammlung, Porzellan und Möbeln, einer über 17.000 Bände zählenden Bibliothek und einer Skulpturengalerie sowie für die berühmten Park- und Gartenanlagen hätte man sicherlich einige Stunden einplanen müssen.

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Stattdessen unternahmen wir eine Fahrt vom südlichen Teil des Nationalparks – White Peak genannt – zum wilderen und unberührteren nördlichen Teil, den man Dark Peak nennt. Die Bezeichnungen rühren von der Farbe des Sandsteins, der im südlichen Teil heller und im nördlichen Teil dunkler ist. Auch die Häuser und Feldmauern sind mit dem jeweiligen Sandstein gebaut. Im Dark Peak ist die Landschaft felsiger, im White Peak sind die Konturen sanfter.

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Der Peak District und die angrenzenden Städte und Dörfer sind geprägt vom Bergbau (schon während der Römerzeit wurde hier Blei gewonnen), der Keramikindustrie (vor allem das bereits erwähnte Stoke-on-Trent), den Textilfabriken (vor allem Cromford) und natürlich der Eisen- und Stahlindustrie (Sheffield). Sie alle haben bis in die 1980er Jahre erheblich zur Luftverschmutzung beigetragen.

Am besten gefallen hat uns der wildere, unberührte Norden des Peak Districts mit Wollgrasmooren, blühender Heide und saftig grünen Wiesen. Auch Felsen aus dunklem Sandstein waren dabei. Der Norden ist hügeliger und hat weniger Hecken. Das wechselhafte und windige Wetter bescherte uns atemberaubende Ausblicke auf unserer Fahrt auf dem „Snake Pass“ mit sagenhaften Wolkenformationen und ständig wechselnden Stimmungen.

Der Pass mit Steigungen von 7 Prozent verbindet Manchester mit Sheffield. Er wurde 1820 gebaut und hat seinen Namen von einem Gasthaus auf der Passhöhe auf 512 Metern, das „The Snake Inn“ heißt.

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Man hätte ständig anhalten und immer wieder Fotos machen wollen, so schnell veränderten sich die Lichtverhältnisse. Mal schob der kräftige Wind Regenschauer vor sich her, dann wieder kamen blauer Himmel und Sonnenstrahlen zum Vorschein. Insofern können wir uns über das Wetter nicht wirklich beschweren, auch wenn es nur um die 15 Grad waren und es immer wieder regnete. Wir saßen ja im Trocknen und wurden Zeugen beeindruckender Stimmungen. Einfach nur blauer Himmel und Sonnenschein wären langweilig gewesen.

Ähnlich schöne Ausblicke hatten wir beim Befahren eines Teils der berühmten „Cat and Fiddle Road“, die in die Seidenstadt Mecclesfield führt. Es gab in den letzten Jahren auf dieser bei Motorradfahrern sehr beliebten Straße, die ebenfalls nach dem Gasthaus auf der Passhöhe auf 520 Metern benannt ist, viele Verkehrsunfälle. Da sie eine wichtige Route für den Schwerlastverkehr ist, ist sie sehr befahren. Der Verkehr wird nicht nur durch zahlreiche Kameras, sondern auch aus der Luft überwacht. Daher gilt es, die Geschwindigkeit auf der ganzen Strecke strikt einzuhalten.

Mecclesfield war einst der größte Produzent von Seidentuch. In den 1830er Jahren gab es über 70 Seidenspinnereien. Im Seidenmuseum und der historischen Spinnerei „Paradise Mill“ kann man in die Geschichte eintauchen. Heute dominiert in der rund 50.000 Einwohner zählenden Stadt die Chemieindustrie: AstraZeneca, eines der größten Pharmaunternehmen der Welt hat hier eine Fertigungsstätte. So kommt es wohl, dass Mecclesfield noch heute eine wohlhabende Stadt ist. 2009 gehörte es zu den zehn Städten mit den reichsten Einwohnern in Großbritannien.

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Von Mecclesfield ging es schließlich Richtung Chester. Auf dem Weg hätte man noch den Kurort Buxton besuchen können. Schon die Römer schätzten dessen heiße Quellen und auch Maria Stuart erholte sich dort. Allerdings soll der Ort bei weitem nicht so schön sein wie Bath, das wir bereits auf unserer letzten England-Reise besucht hatten. Wir folgten daher dem Rat von Caroline und Tim und nahmen Buxton von unserer Liste, um mehr Zeit für den Schlenker in den Dark Peak zu haben.

Unser Bed and Breakfast befand sich kurz vor Chester auf einer Farm auf dem Land. Unsere Gastgeberin Penelope nahm uns auf als seien wir alte Bekannte. Die Haustür stand offen, nach einem beherzten „Hello“ erschien eine hochgewachsene, burschikose Frau mit nassen Haaren. Sie war gerade dabei, sich für eine Einladung fertig zu machen. Obwohl in Eile, führte sie uns durchs Haus und betrieb dabei Smalltalk. Unser geräumiges, sehr gemütlich eingerichtetes Zimmer lag im ersten Stock. Da keine anderen Gäste dort waren, hatten wir das oberste Stockwerk ganz für uns allein. Penelope drückte uns den Haustürschlüssel in die Hand und erkundigte sich noch schnell, ob wir schon wüssten, wo wir zu Abend essen. Bei meinen Reisevorbereitungen hatte ich das Fishpool Inn ins Auge gefasst. Penelope ermunterte uns zu einem Besuch. Es sei ein nettes Lokal, wo sie früher des Öfteren mit den Kindern gewesen sei. Wir waren froh, in dem stark frequentierten Gastropub, das bis zu 3.000 Gäste pro Woche zählen soll, noch einen Platz zu bekommen. Das Flair eines Dorfpubs hatte es nur noch bedingt. Die Karte war umfangreich: Von Pizza über traditionelle Pies, Fish and Chips und Burger konnte man alles bekommen. Das Essen war durchschnittlich, die Atmosphäre etwas laut und hektisch. Nach so viel Natur sehnten wir uns nach einem ruhigerem Plätzchen. Unsere Köpfe waren voller Eindrücke, wir reagierten nur noch langsam und so war uns der Trubel etwas zu viel. Dass das Lokal an einem Donnerstagabend so gut besucht war, wunderte uns. Vielleicht hing es mit der Hochsaison zusammen oder damit, dass die großen Städte der Midlands nicht weit entfernt waren.

Ludlow, die Shropshire Hills und Coalbrooksdale

Beim Frühstück im Old Manor House entspann sich eine interessante Unterhaltung zum Thema Brexit mit anderen Gästen des B&B. Am Tisch: ein etwas älteres Dreiergespann. Zwei Damen und ein Mann, allesamt Engländer, wobei der Mann und seine Frau in Frankreich lebten, die andere Frau kam aus Kent. Außerdem ein deutsches Ehepaar aus der Nähe von Köln. Sie war Übersetzerin für Englisch und Französisch und arbeitete als Englischlehrerin. Die Engländer verbrachten gemeinsam einige Tage in der Gegend, unter anderem, um sich Theaterstücke in Stratford anzusehen. Sie schienen gut informiert und gebildet, vor allem der Mann besaß einen feinsinnigen Humor.

William servierte den warmen Teil des Frühstücks und versorgte uns mit Tee und Toast. Dabei lieferten sich die beiden Engländer regelrechte Wortgefechte voller Witz und Hintersinn. Shakespeare wurde zitiert und darüber nachgedacht, wie es wohl zu seiner Zeit zugegangen sei. Es war herrlich, der Konversation zu folgen. Alle bedauerten den Brexit. Es sei eine äußerst dumme Entscheidung. Das Ehepaar aus Frankreich dachte darüber nach, die französische Staatsbürgerschaft anzunehmen, um die vielen Ungewissheiten über ihren Aufenthaltsstatus und mögliche Beschwernisse beim Reisen zwischen England und Frankreich auszuschließen. Viele im Ausland lebende Engländer seien zu diesem Schritt gezwungen. Über die Premierministerin wurde geschimpft. Es sollte nicht das letzte Mal sein, dass Theresa May als „silly woman“ bezeichnet wurde. Ebenfalls kein gutes Haar ließ die Gesellschaft an ihrem Kontrahenten Jeremy Corbyn. Regierung wie Opposition warfen sie Planlosigkeit und Überforderung vor. Die Minister bekämpften sich gegenseitig und intrigierten obendrein noch gegen May. Ebenfalls gespalten sei die Opposition. Schottland und Wales stellten sich gegen London und Nordirland habe die Regierung nur gewonnen, indem sie gegenüber einer irischen Kleinstpartei Zugeständnisse gemacht habe. Die Wirtschaft, insbesondere die gewichtige Finanzwelt, ignoriere man. Es gab Stimmen, die zuversichtlich waren, dass der Brexit verkrustete Strukturen aufbrechen und eine neue Dynamik erzeugen könne. Insgesamt überwog jedoch die Skepzis. Parlament und Regierung würden über Jahre mit den Austrittsverhandlungen beschäftigt sein und damit, neue Bündnisse zu schmieden. Das werde Kapazitäten binden, die das Land brauche, um an anderen Stellen weiterzukommen.

Kopfschüttelnd beschlossen William und der Herr aus Frankreich ob der Tatsache, dass man an der festgefahrenen Situation kaum etwas ändern könne, sich auf das Frühstück zu konzentrieren. William fragte, ob noch mehr Toast gewünscht sei und regte er eine „comradship of toast“ an.

Schade, dass wir uns verabschieden mussten, weil die Straße rief. Anders als die Deutschen, die bei solchen Unterhaltungen zum Meckern und Mosern neigen, werden die Beschwernisse des Lebens in England stets mit einem Schuss Humor betrachtet. So ist man nie verbittert oder frustriert, wenn man weiterzieht.

Beim Abschied lernten wir Williams Frau Jane kennen, die morgens derart beschäftigt mit dem Zubereiten des Frühstücks gewesen war, dass wir sie noch gar nicht gesehen hatten. Das war schade, denn Jane war eine überaus sympathische und liebenswerte Frau. Sie freute sich aufrichtig über die lobenden Worte, die wir ihr für unseren Aufenthalt aussprachen. Angesprochen auf das historische Haus entfuhr ihr ein tiefer Seufzer. Ja, das 1550 (also zu Shakespeares Zeiten) erbaute Haus sei bemerkenswert, doch die Arbeit, die damit verbunden sei, enorm. Sie fühle sich zuweilen wie in einem Hamsterrad, denn es gebe stets irgendetwas zu tun. Und die langen grauen Winter in einem Gebäude mit kleinen Fenstern und tiefen Decken könnten ganz schön auf das Gemüt gehen. Zudem sei es schwer, das alte Gemäuer richtig warm zu bekommen. So herrlich der Anblick für Besucher sei, es stecke so viel dahinter, dass sie schon so manches Mal überlegt habe, das ganze aufzugeben.

Die dritte Etappe unserer Reise führte uns an Worcester vorbei über Ludlow, durch die Shorpshire Hills nach Coalbrooksdale. Übernachten wollten wir außerhalb von Burton-upon-Trent.

Mit dem Übertritt in die Grafschaft Warwickshire hatten wir den südlichen Teil der Midlands erreicht. Das Gebiet, das sich – wie der Name sagt – in der Mitte zwischen Süd- und Nordengland befindet, entspricht weitgehend dem einstigen Königreich Mercia.

Seit Beginn des 5. Jahrhunderts hatten germanische Stämme vom heutigen Niedersachsen und Schleswig-Holstein aus Britannien erobert. Sie kamen aus der Hügellandschaft zwischen der Flensburger Förde und der Schlei (Angeln), aus Sachsen und Jütland.

Die Angelsachsen gründeten kleine Königreiche. Unter König Offa (757-796) besass Mercia die Vormacht, wurde dann aber von Wessex abgelöst. Dessen König Egbert (802-839) unterwarf Mercia, Kent, Sussex, Essex, East Anglia und Northcumbria und vereinigte sie zu einem Gesamtstaat. In schweren Kämpfen verteidigte sich dieser gegen dänische und norwegische Wikinger. Gegen den Herzog der Normandie, Wilhelm den Eroberer, musste er sich jedoch 1066 geschlagen geben.

Einst als „Workshop of the World“ bezeichnet, ist die Deindustrialisierung in England weit vorangeschritten. Sie begann nach dem Zweiten Weltkrieg in der Textilindstrie und setzte sich in den 1970er und 1980er Jahren in der Schwerindustrie fort. Dennoch ist die Industrie auch heute noch für England bedeutsam und die Midlands sind ihr Herzstück. 2,3 Millionen Menschen arbeiten in diesem Wirtschaftszweig. Er erzeugt weit über die Hälfte der britischen Exporte.

Zu den wichtigsten Sektoren gehören die Automobilindustrie, Elektronik, Audio- und Optikgeräte, Nahrungsmittel, Getränke, Tabak, Papier, Druck, Verlage und Textilien.

Die Automobilindustrie, die mit klingenden Namen wie MG, Morgan, Aston Martin, Jaguar und Land Rover verbunden wird, beginnt sich nach schwierigen Jahren langsam zu erholen, auch wenn die großen Unternehmen mittlerweile in ausländischer Hand sind. Alle großen Marken sind mit Werken in Großbritannien vertreten: BMW, Ford, Honda, Nissan, PSA, Toyota und Volkswagen. Die überwiegende Zahl der Fahrzeuge wird exportiert, die Hälfte davon in die Länder der Europäischen Union.

Daneben werden Schienenfahrzeuge hergestellt, BAE Systems produziert gepanzerte Fahrzeuge, JCB landwirtschaftliche Maschinen und Industriefahrzeuge. Goodyear Dunlop und Michelin stellen Reifen in den Midlands her. Mit Rolls-Royce Aero Engines ist hier auch ein bedeutendes Luftfahrtunternehmen ansässig.

Zwei der größten Pharmaunternehmen der Welt – GlaxoSmithKline und AstraZeneca – haben ihren Hauptsitz in Großbritannien.

Bekannte Namen anderer Industriezweige sind Unilever, SABMiller, Cadbury Schweppes, British American Tabacco, Imperial Tabacco und Burberry.

Auch wenn Namen wie Wedgwood, Spode, Bridgewater und Hudson & Middelton weit über Englands Grenzen hinaus bekannt sind, spielt die ab dem 17. Jahrhundert so bedeutende Keramikindustrie heute keine herausragende Rolle mehr. Im „Pottery District“ Stoke-on-Trent ging die Zahl der Arbeitsplätze von 50.000 in den 1980er Jahren auf kaum mehr 9.000 zurück. Ein Lichtblick sind die vielen jungen Keramikgestalter, die sich in den letzten Jahren dort niedergelassen haben und die Tradition mit frischen, neuen Ideen – etwa unter Zuhilfenahme des 3-D-Druckers – wieder beleben.

Viele neue Unternehmen entstanden in Transport, Logistik, Metallverarbeitung und Umwelttechnologie. Weitere Arbeitsplätze konnten im Dienstleistungsbereich gewonnen werden. Die alten Industriezentren Manchester und Birmingham zählen heute wieder zu den wirtschaftsstärkten Regionen.

Dennoch bleibt Mittelengland hinter den südlichen Regionen zurück. Fast 230.000 Menschen haben keine Arbeit, die Arbeitslosenquote liegt mehr als ein Prozent über dem britischen Durchschnitt von 8 Prozent.

Die Region ist stark vom funktionierenden Export abhängig. Große internationale Konzerne wie Airbus, Coca Cola, Nestlé und Pfizer setzen mit ihren Produktionsstätten rund 100 Milliarden Dollar um und geben 200.000 Menschen Arbeit. Die Hälfte der britischen Exporte geht in EU-Länder. Umso paradoxer, dass sich die meisten Befürworter des Brexit in den Midlands finden.

Wie sich Mittelengland künftig entwickelt, wird von den Vereinbarungen abhängen, die den Austritt Großbritanniens aus der EU regeln. Ein harter Brexit könnte zu einem Rückzug internationaler Konzerne führen und damit tausende von Arbeitsplätzen vernichten.

Wir begaben uns auf die Autobahn Richtung Stratford und fuhren dann nördlich an Birmingham vorbei nach Ludlow.

Der knapp 10.000 Einwohner zählende Ort ist nicht nur bekannt für seine schönen schwarz-weißen Fachwerkhäuser aus gregorianischer Zeit, sondern auch für seine Gastronomie: bis vor einiger Zeit gab es dort drei Restaurants mit Michelin-Stern. In den Einkaufsstraßen findet man so manches Lebensmittelgeschäft, das man in so einer kleinen Stadt nicht vermuten würde, etwa einen Käseladen, der ausschließlich englische Käsesorten im Angebot hat oder einen Fischladen, in dem man frischen Hummer und Austern bekommt.

Die Stadt wurde von Walter de Larcy, einem normannischen Adligen gegründet. Für seine Teilnahme an der Schlacht von Hastings bekam er 1066 vom Wilhelm dem Eroberer Ländereien an der Grenze zu Wales zugesprochen. Am Fluss Teme baute er eine Burg. 1177 soll die Stadt über 1.000 Einwohner gehabt haben. Zu dieser Zeit gab es bereits das Rose and Crown Inn, das man über einen mit Kopfstein gepflasterten Innenhof erreicht. Mit seiner über 600jährigen Geschichte gehört es zu den ältesten Gastwirtschaften in England.

Wir folgten der Empfehlung des Reiseführers und machten einige Kilometer weiter in Church Stretton halt. Im viktorianischen England war die kleine Stadt Kurort und wurde wegen der sie umgebenden Landschaft als „little Switzerland“ bezeichnet. Heute ist die geschäftige kaum 5.000 Einwohner zählende Marktstadt einer der Hauptorte in den Shorpshire Hills. Die Gegend wurde 1958 zur Area of Outstanding Natural Beauty erklärt. Erstaunlich, dass sie vom Tourismus bis heute relativ unentdeckt blieb.

In dem winzigen Feinkostladen Van Doesburg´s ließen wir uns Sandwiches belegen und kauften Quiche und Pasteten ein. Wir wollten abends auf ein erneutes Essen in einem Pub verzichten und stattdessen ein Picknick machen. Die Zeitung The Guardian hatte die Sandwiches 2005 mit fünf Sternen bewertet und schwärmte: „Done well, even the simplest food can brighten up your day“. Eine kleine Aufhellung konnten wir gut gebrauchen: Immer wieder waren Regenschauer niedergegangen und am Himmel dominierte die Farbe grau.

Auf einer reizvollen Strecke durch die Shropshire Hills – grüne Hügel, die durch ihre Rundungen wie überdimensionale Maulwurfshügel aussahen und die durch frühere Vulkantätigkeit entstanden waren – gelangten wir nach Coalbrooksdale. Obwohl überwiegend ländlich geprägt, ist Shropshire die Wiege der industriellen Revolution.

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In Coalbrooksdale begannen im 16. Jahrhundert der Kohlebergbau und die Eisenverhüttung. 1708 pachtete der Fabrikant Abraham Darby das Hüttenwerk. Darby hatte in den 1690er Jahren in Birmingham eine Lehre bei einem Hersteller für Walzwerke zum Schroten von Malz absolviert. 1699 zog er nach Bristol, wo er zunächst selbst Schrotmühlen herstellte.

Zusammen mit anderen Quäkern gründete er 1702 eine Messingwarenfabrik. Er produzierte Kochtöpfe und andere Hohlwaren. Darby entwickelte das Sandguss-Verfahren weiter, das bis dahin nur für Kleinteile verwendet worden war. Die neue Methode ermöglichte es, dünnwandigere Töpfe herzustellen als durch das Gießen in traditionelle Lehmformen. Darby wandte das Verfahren auch mit Eisen an. Seine Nachfolger verkauften Töpfe in ganz England und Wales und besaßen hierfür praktisch ein Monopol.

Darby richtete seine Aufmerksamkeit auf die Produktion von Eisen und pachtete das Hüttenwerk in Coalbrooksdale. Um das Eisenerz zu schmelzen, nutze er erstmals Koks. Das neue Verfahren machte die Konstruktion neuer Hochöfen notwendig. Darby schuf damit die Voraussetzung für die industrielle Massenfertigung von Roheisen.

Auch die folgenden beiden Generationen entwickelten das Hüttenwesen und die Eisenveredelung weiter. Darbys Enkel, Abraham Darby III, übernahm das Werk seines Großvaters mit 19 Jahren. Unweit von Coalbrooksdale baute er 1779 eine Brücke über den Fluss. Bis dahin waren zur Querung des Severn Fähren genutzt worden. Die Eisenindustrie wuchs jedoch so stark, dass ein schnellerer Weg erforderlich war. Der Architekt Thomas Pritchard, der sich vornehmlich einen Namen mit dem Bau von Kirchen gemacht hatte, entwarf eine Eisenbrücke. Dabei übertrug er die Methoden des Holzbrückenbaus. In leicht modifizierter Form wurden die gusseisernen Einzelteile zwischen 1777 und 1779 in den Eisenhütten in Coalbrookdale hergestellt. Den Auftrag erhielt Abraham Darby. Die Baukosten von 3.200 Pfund wurden durch die Ausgabe von Aktien finanziert. Für etwaige Zusatzkosten sollte Darby aufkommen. Weil statt der vorausberechneten 300 Tonnen 378 Tonnen Eisen benötigt wurden, kam diese Vertragsklausel Darby teuer zu stehen: Fast 3.000 Pfund musste er aus eigener Tasche zahlen.

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Thomas Pritchard hat die Eröffnung der 30 Meter langen Brücke am Neujahrstag 1781 nicht mehr erlebt. Er starb 1777 mit nur 54 Jahren.

Die Iron Bridge gab sowohl der Ortschaft als auch dem Tal den Namen: Um die Brücke bekannt zu machen, wurde „Severn Gorge“ umbenannt in Ironbridge Gorge. Das Bauwerk war im 18. Jahrhundert die Attraktion schlechthin. Sie lockte Menschen aus dem ganzen Land an.

Zur Erinnerung benannte der Rosenzüchter David Austin 1985 eine Rosensorte nach Abraham Darby. Austins Rosenschule liegt nur wenige Kilometer von der Ironbridge entfernt.

Heute gehört Iron Bridge Gorge zum UNESCO-Welterbe. In dem etwa sieben Kilometer langen Tal kann man eine ganze Reihe von Museen besuchen: Das Eisenmuseum liegt in einer ehemaligen Eisengießerei in Coalbrooksdale, in der bis zu 4.000 Männer und Kinder arbeiteten. Am Fluss lassen sich die Reste eines Hochofens bestaunen. Der Ofen wurde rund um die Uhr mit Koks befeuert. Nachts soll seine glühende Silhouette Passanten verängstig haben. „Bedlams“ nannte man im Mittelalter Irrenanstalten. In Anlehnung an die Redeweise „to scare out of one´s wits“ (vor Angst den Verstand verlieren) erhielt der Hochofen den Namen „Bedlam Furnance“.

Außerdem kann man sich die Rekonstruktion einer viktorianischer Stadt anschauen, einen historischen Porzellanbetieb, eine Tonpfeifenfabrik und eine Ausstellung dekorativer Keramikfliesen.

Kaum vorstellbar ist, dass dieses so romantisch gelegene Flusstal einst ein Industriegebiet mit schmauchenden Schloten war, in dem die Menschen wegen der harten Arbeitsbedingungen und der Luftverschmutzung sicherlich nicht sehr alt geworden sind.

Nach dem Zweiten Weltkrieg verlor Großbritannien seine Führungsrolle in der Schwerindustrie. Hatte die Stahlproduktion während des Krieges noch bei 20 Millionen Tonnen gelegen, war sie 1967 auf 50.000 Tonnen abgesunken. Veraltete Produktionsmethoden, ein Investitionsstau und ein Überangebot auf dem Weltmarkt führten in den 1970er Jahren zu Absatzschwierigkeiten, denen Rationalisierungsmaßnahmen folgten. In Liverpool kam der Schiffbau fast völlig zum Erliegen, die Produktion von Automobilen wurde wegen steigender Importe gedrosselt.

Der Niedergang in den Schlüsselindustrien, die Elektrifizierung der Eisenbahn und die steigende Förderung von Öl in der Nordsee führten zu einem dramatischen Nachfragerückgang bei der Kohle. In den 1980er Jahren trieb Margaret Thatcher die Schließung eines Großteils der Bergwerke voran. Die letzte sich noch im Betrieb befindliche Zeche in North Yorkshire stellte ihre Arbeit 2015 ein. Heute wird Kohle nur noch im Tagebau gefördert. Nach Polen ist Großbritannien allerdings weiterhin zweitgrößter Steinkohleproduzent in der EU.

Just als wir an der sehenswerten Brücke angelangt waren, kam die Sonne heraus – zuvor war der Himmel die ganze Zeit verhangen gewesen und es hatte fast durchgehend genieselt. Schnell erwärmte sich die Luft von 15 auf 20 Grad. Wir machten es uns auf einer Bank gemütlich und verspeisten die frisch nach unseren Wünschen belegten Sandwiches mit Blick auf das historische Monument.

Der Weg zum Bed und Breakfast war weniger attraktiv. Er führte uns um Birmingham herum geradewegs in Gewerbegebiete. Ein Kreisverkehr folgte dem nächsten. Es waren große Kreisverkehre, teilweise mit Ampeln, in denen jede Menge LKWs unterwegs waren. Burton-upon-Trend entpuppte sich als wenig schöner Ausläufer des Industriestandortes Birmingham.

Fast 75.000 Menschen leben in der für ihre Brauerein bekannten Stadt. Um 1000 gründeten Mönche das Kloster Burton Abbey. Sie stellten fest, dass das Wasser sich besonders gut zum Bierbrauen eignete. So entstanden im Laufe der Jahrhunderte etliche Brauereien. Als Nebenprodukte werden Marmite, ein Brotaufstrich aus Bierhefe und Bovirl, ein gesalzenes Hefeextrakt hergestellt.

Auf dem Fluss Trent ist Burton bis zum Nordseehafen Hull schiffbar. Im 18. Jahrhundert wurde das Bier auf Kähnen verschifft und bis ins Baltikum exportiert. Der 1777 fertiggestellte Trent-und-Mersey-Kanal verband die Stadt mit Liverpool. Ab den 1830er Jahren konnten die von Pferden getreidelten Binnenschiffe durch die Eisenbahn ersetzt werden. Die Anbindung zu den beiden Häfen ermöglichte es, das gesamte Britische Empire mit Bier aus Burton-upon-Trend zu versorgen.

Zusammenschlüsse und Verkäufe haben die Zahl der Brauereien schrumpfen lassen. Von den 30 Herstellern im Jahre 1880 sind heute noch acht übriggeblieben.

Wir fuhren durch weniger vertrauenswürdige, etwas heruntergekommene Viertel. Mit Blick auf das Navi wurden wir etwas nervös: nur noch wenige Kilometer trennten und von unserer nächsten Unterkunft, dem Westmorland Cottage, wo die Gastgeber Tim und Caroline uns schon erwarteten. Nur noch wenige Kilometer angesichts dieser Tristesse, die draußen herrschte?! Die einzigen Farbtupfer waren die traditionellen Gewänder pakistanischer Frauen, die auf den schmalen Gehwegen vor hässlichen, heruntergekommenen Reihenhäusern liefen.

Wir bogen rechts in eine Straße ab. Das Bild wandelte sich: erst kleinere Einzelhäuser, dann größere mit Gärten. Umso weiter wir der Straße folgten, desto wohlhabender wurde die Gegend. Schließlich säumten rechts und links regelrechte Villen die Straßen. Wir waren in Rolleston-on-Dove angekommen, einer Ortschaft außerhalb von Burton-upon-Trend.

Das Navigationsgerät teilte mit, das Ziel sei erreicht. Wir wunderten uns, denn wir befanden uns vor einem geöffneten Tor, hinter dem sich wohl ein Privatgrundstück erstreckte. Ein Hinweis auf ein Bed and Breakfast oder die gesuchte Adresse fehlte. Wir wagten nicht, einfach hineinzufahren. Ich rief die „Herbergseltern“ an. Tim lotste uns durch das Tor, hinter dem sich eine Privatstraße auftat: die Zufahrtsstraße zu diversen größeren Anwesen, darunter auch das gesuchte Westmorland Cottage. Erst später sollten wir erfahren, dass das kleine Häuschen rechts neben dem Eingangstor früher einmal das Portiershaus von Rolleston Hall, dem Familiensitz der Mosleys war. Das Anwesen wurde 1923 verkauft, das Landhaus aus dem 17. Jahrhundert abgerissen, auf dem Gelände entstanden diverse Wohnhäuser. Sir Oswald Mosley (1896 – 1980), der Begründer der British Union of Fascists, hatte hier seine Jugend verbracht. Nach dem Tod seiner ersten Frau heiratete Mosley seine Geliebte Diana Guiness, eine Schwester von Unity Mitford. Mitford war eine glühende Verehrerin von Adolf Hitler. Sie bewegte sich in dessen innerstem Führungskreis. Oswald und Diana wurden 1936 im Haus von Josef Goebbels getraut, unter den Gästen war auch Hitler. 1940 internierten die Briten das Ehepaar und verboten die British Union of Fascists. Versuche Mosleys, nach dem Krieg in die Politik zurückzukehren, scheiterten am geringen Zuspruch. Ende der 1960er Jahre zog sich Mosley aus der Politik zurück. Er starb 1980 in Frankreich. Einer seiner schärfsten Kritiker war sein Sohn aus erster Ehe, der Schriftsteller Nicholas Mosley. Anfang der 1980er Jahre verfasste er eine zweibändige Biographie über das Leben seines Vaters.

Tim und Caroline begrüßten uns herzlich und luden uns auf eine Tasse Tee ein. Unser geräumiges Zimmer lag separat über einer Doppelgarage. Die Aufmachung erinnerte an ein Kutscherhaus. Eine Treppe führte außen hinauf in den ersten Stock unter das Dach, wo wir einen großen, äußerst geschmackvoll und mit hochwertigen Mobiliar eingerichteten Raum mit einem sehr schönen Bad vorfanden. Alles war ganz neu und farblich sorgsam aufeinander abgestimmt. Die Gastgeber erzählten uns, dass Tims Pensionierung sie dazu bewogen habe, ein Bed and Breakfast einzurichten. Die Kinder seien aus dem Haus, man habe Platz und Zeit und in der unmittelbaren Umgebung gebe es gar keine B&Bs. Dass dieses Paar das Zimmer nicht anbot, weil es Geld für den Unterhalt eines historischen Hauses oder gar als Zubrot benötigte, merkte man den beiden an. Sie schienen tatsächlich Freude daran zu haben, Menschen aus aller Welt bei sich aufzunehmen. Nach unserer Reiseroute gefragt, löste der Lake District wie immer wahre Begeisterungsstürme aus: „Oh, it´s so nice, you are so lucky, you will love it“. Es ist bemerkenswert, wie sehr die Engländer mit ihrem Land verbunden sind. Wir vermuteten schon, es sei die britische Art, jedes unserer Ziele als bemerkenswert schön hervorzuheben. Abends bei einem Besuch des örtlichen Pubs (wir sind inzwischen schon so akklimatisiert, dass wir dort auf einen Drink hingehen …) witzelten wir, dass man dieser Frage einmal nachgehen müsste, indem man eine äußerst häßliche Stadt als Ziel nennt. Ob die Gesprächspartner dann wohl auch aus purer Höflichkeit ins Schwärmen geraten?

Stratford-upon-Avon, Warwick und Baddesley Clinton

Beim reichhaltigen Frühstück mit Bacon, Spiegelei, gebratenen Pilzen und einer überbackenen Tomate schmiedeten wir Pläne für den Tag. Ein Bummel durch Shakespeares Geburtsstadt Stratford war gesetzt, meine restliche Planung verwarfen wir. Ich hatte für den Nachmittag eine Rundtour durch das Val of Evesham, entlang des Fluss Severn vorbei an Obstplantagen, vorgesehen und einen Besuch des alten Kurorts Cheltenham. Doch das hätte bedeutet, dass wir überwiegend im Auto gesessen hätten. Stattdessen nahmen wir uns einen Rundgang durch das Städtchen Warwick vor, das nur 12 km von Stratford entfernt liegt.

Ich hatte Stratford-upon-Avon vor rund 30 Jahren als Schülerin besucht. Jetzt enttäuschte es mich etwas. Vielleicht hat sich der Ort sehr verändert oder ich habe ihn in meiner Erinnerung romantisiert. In den breiten Fußgängerzonen überwogen Billig-Ketten. Die historischen Stätten dazwischen wirkten fast ein wenig verloren.

Als wir ankamen, bevölkerten noch nicht sehr viele Touristen die Stadt. Reiseführer warnen davor, das 24.000 Einwohner zählende Städtchen während der Hochsaison aufzusuchen und auch unser „Herbergsvater“ hatte geraten, möglichst frühzeitig dorthin aufzubrechen. Wir waren überrascht, dass um zehn Uhr morgens noch nicht so viel Trubel herrschte, wie vorausgesagt. Die Museen – das Geburtshaus von Shakespeare und weitere mit dem Dichter mittelbar oder unmittelbar in Verbindung zu bringende Attraktionen – öffneten bereits um neun Uhr.

Vor dem „Shakespeare Center“, dem um einen klotzigen Neubau erweiterten Geburtshaus, sammelte sich lediglich eine Reisegruppe mit Japanern, ansonsten waren keine nennenswerten Touristenströme in Sicht. Auch einen Parkplatz hatten wir relativ einfach gefunden.

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„Shakespeares Birthplace“, das langgezogene Fachwerkhaus in der Henley Street, sind eigentlich zwei Häuser. In einem wohnte die Familie, in dem anderen hatte Shakespeares Vater John sein Handschuh-Geschäft und seine Werkstatt. John war ein angesehener Bürger der Stadt, die damals etwa 800 Einwohner zählte.

Wir liefen die vom Reiseführer ausgewiesenen Stätten ab, wozu auch Harvard House gehört. Es wurde 1596 von Thomas Rogers erbaut. Rogers war ein erfolgreicher Metzger, Mais- und Viehhändler und diente neben John Shakespeare der Stratford Corporation als Alderman. 1607 wurde sein Enkel John Harvard geboren, mit dessen Vermögen später die berühmte amerikanische Elite-Universität begründet werden sollte.

Der wohlhabende Geistliche war mit seiner Frau Anne nach Massachusetts ausgewandert. Als er 1638 an Tuberkulose starb, vermachte er sein Vermögen einem Fonds zur Gründung einer neuen Hochschule, zusammen mit seiner über 230 Bücher zählenden Bibliothek. In Anerkennung seiner Großzügigkeit benannte sich Newetowne, der Ort, in dem er lebte, um und zwar nach der Stadt in England, in der John studiert hatte: Cambridge. Die Hochschule erhielt seinen Nachnamen. Einige Jahre später konnte mit dem Vermächtnis von Lady Mowlson Radcliffe ein Stipendienfond für bedürftige Studenten eingerichtet werden. Harvard College und Radcliffe College gehören zu den ältesten Colleges in den USA. Die Universität war zunächst streng religiös ausrichtet. Weitere Lehrangebote entwickelten sich erst 100 Jahre später.

1909 kaufte der Amerikaner Edward Morris das Haus von Johns Großvater in Stratford-upon-Avon. Nach seiner Restaurierung wurde es der Harvard University übergeben und ist seither als „Harvard House“ bekannt. Die Verwaltung der Immobilie hat Shakespeares Birthplace Trust übernommen. Für die Öffentlichkeit ist sie nur zu besonderen Anlässen zugänglich.

Dass Hall´s Croft und Nash´s House ebenfalls zu den wichtigen Sehenswürdigkeiten gezählt wurden, ließ uns schmunzeln: das erste war das Haus von Shakespeares Schwester Suzanna und deren Mann John Hall, das zweite gehörte dem Ehemann von Shakespeares Enkelin. Wurde hier alles zur Sehenswürdigkeit stilisiert, das irgendwie mit Shakespeare in Verbindung zu bringen war? Sicherlich, es handelte sich um historische Häuser, doch meinten wir auf einen regelrechten Shakespeare-Kult zu treffen, der ein wenig enervierend war.

In Hall´s Croft kann man eine Ausstellung über die Medizin im 17. Jahrhundert sehen. John Hall war ein bekannter Arzt. Nach seinem Tode erschien ein Buch über seine Behandlungsmethoden, das viele Jahre lang anderen Ärzten als Lehrbuch diente. Während seine Kollegen auf Astronomie und Aderlass schworen, behandelte Hall seine Patienten mit Heilpflanzen und Edelsteinen.

Nash´s House ist nach dem ersten Ehemann von Shakespeares Enkelin Thomas Nash benannt. Direkt daneben befindet sich New Place, ein Ausstellungszentrum, das sich auf dem Fundament des Stadthauses befindet, in dem Shakespeare seinen Ruhestand verbrachte. In dem repräsentativen Haus aus dem Jahre 1483 soll der Dichter einige seiner späten Werke geschrieben haben, darunter „The Tempest“. Zu Shakespeares Zeiten war New Place das zweitgrößte Haus in Stratford. Einer der späteren Besitzer riss es 1759 ab, angeblich, weil er sich von dem ständigen Strom von Shakespeare-Verehrern gestört fühlte.

Mit dem erst im vergangenen Jahr neu eröffneten Zentrum will der Shakespeares Birthplace Trust den Geist des Dichters für die Besucher zum Leben erwecken: die Werke zeitgenössischer Künstler, verschiedene Ausstellungsstücke und die Rekonstruktion des Gartens sollen dabei helfen, sich in die Zeit zu versetzen und sich Shakespeare ganz nahe zu fühlen.

Aus Sicht der Tourismusförderung ist der Kult, der um den Dichter betrieben wird, verständlich: Schon seit dem18. Jahrhundert, als ein Schauspieler auf die Idee kam, in Stratford ein Shakespeare-Festival ins Leben zu rufen, strömen die Besucher in die kleine Stadt am Avon. Heute ist der Tourismus die größte Einnahmequelle. Jährlich kommen zwei Millionen Besucher, um dem wohl berühmtesten Engländer ihre Reverenz zu erweisen.

Die Eintrittspreise sind happig: Das Geburtshaus lässt sich nur besichtigen, wenn man einen „House Pass“ für 26 Pfund kauft. Mit ihm kann man weitere in der Stadt verteilte Sehenswürdigkeiten besuchen. Vorab im Internet erworben, lässt sich eine Preisreduktion erzielen: Das Britische Fremdenverkehrsamt bietet einen Pass an, der den Besuch des Geburtshauses und zweier weiterer Häuser erlaubt. Für 21 Euro kann man so auch ein Blick in Anne Hathaway’s Cottage und Mary Arden’s Farm außerhalb von Stratford werfen. Anne Hathaway´s Cottage ist das Geburtshaus von Shakespeares Frau, Mary Arden´s Farm der Bauernhof, auf dem die Mutter des Dichters aufwuchs.

Hat Shakespeare wirklich gelebt? Zweifel daran gibt es schon lange. Fast 4.000 Personen haben die „Declaration of Reasonable Doubt“ unterzeichnet, die die „Shakespeare Authorship Coalition“, eine in Kalifornien ansässige Vereinigung, ins Internet gestellt hat. Die Wissenschaftler sind nicht allein. Auch Mark Twain und Sigmund Freud, Charlie Chaplin und Henry James waren sich sicher, dass es sich bei „William Shakespeare“ um ein Pseudonym handelte, hinter dem möglicherweise sogar ein ganzes Kollektiv von Autoren steckte.

Tatsächlich bleibt vieles in Shakespeares Leben vage, so sehr sich Stratford-on-Avon auch müht, jedes Steinchen zu bewahren, das eine Verbindung zu dem berühmten Sohn der Stadt aufweisen könnte. Die Frankfurter Allgemeine Zeitung hat sich anlässlich des 450. Geburtstages des Dichters in einem lesenswerten Artikel mit diesen Zweifeln beschäftigt.

Wer sich lieber auf Shakespeares Werke konzentriert, dem sei die Royal Shakespeare Company empfohlen. Das Theater hat einen ausgezeichneten Ruf, der Besuch einer Vorstellung ist in jedem Fall ein Erlebnis.

Während eines Ferienaufenthaltes vor vielen Jahren hatte meine Gastmutter Karten für eine Aufführung von „Romeo und Julia“ organisiert. Sie legte Wert darauf, dass ihre beiden Mädchen und ich uns mit dem Werk des berühmten Dichters auseinandersetzen. Dass sie Romeo und Julia wählte, war eine kluge Entscheidung. Weil uns Pubertierende die Handlung interessierte, waren wir bereit, uns auf die Sprache einzulassen. Auch für Muttersprachler ist das nicht ganz einfach. Doch die Schauspieler wissen zu fesseln und auch die Atmosphäre in dem eigens für die Aufführungen von Shakespeare-Stücken in den 1930er Jahren errichteten Theater ist eine ganz besondere. Umso bedauerlicher, dass es gut 30 Jahre später just an dem Tag, an dem wir in Stratford waren, keine Vorstellung gab.

Sehr gut gefallen hat uns ein kleiner Spaziergang am Avon entlang, dem Fluss, an dem Stratford liegt. Malerische Ausflugs- und Ruderboote und gepflegte englische Rasenflächen bis hinunter ans Wasser machten das ganze zu einem Augenschmaus.

Auch das Hafenbecken mit der Schleusenanlage war sehr schön. Sie verbindet den Avon mit dem Birmingham-Stratford-Kanal. Die rund 40 km wurden zwischen 1793 und 1816 erbaut. Bis zur Verbreitung der Eisenbahn diente die Wasserstraße vor allem dem Handel. Danach geriet sie weitgehend in Vergessenheit. 1956 gründeten Freiwillige die Stratford upon Avon Canal Society, um den Kanal zwischen Lapworth und Stratford wieder schiffbar zu machen. 1964 eröffnete die Königin Mutter den Abschnitt an der Schleuse in Stratford, eine von insgesamt 56 Schleusen. Später kam die Strecke bis nach Kings Norton hinzu. Heute nutzen vor allem Freizeitkapitäne und Angler den Kanal. An seinen Ufern sind Radfahrer und Wanderer unterwegs.

Nach kaum zwei Stunden verließen wir Stratford wieder und fuhren weiter nach Warwick. William hatte den Besuch des Städtchens beim Frühstück empfohlen.

Zur Besichtigung der imposanten Burg riet er eher verhalten. Sie wird von der Firma Madame Tussaud – dem berühmten Wachsfigurenkabinett in London – geführt. Sie hat Warwick Castle in einen mittelalterlichen Themenpark verwandelt mit entsprechend hohen Eintrittsgeldern. Wir nahmen Abstand von einem Besuch und ließen uns stattdessen von einer überaus freundlichen Dame in der Tourismuszentrale Punkte empfehlen, von denen man die Burg gut sehen und photographieren konnte.

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1086 errichtet, diente das Bauwerk als Bollwerk gegen dänische Invasoren. Der letzte Besitzer zog 1978 aus. Seither wird es landesweit als „größtes mittelalterliches Erlebnis“ vermarktet und zieht vor allem Familien mit Kindern an. Angesichts der hohen Kosten, die für den Erhalt eines solchen Gebäudes anfallen, sicherlich nicht die schlechteste Lösung.

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Im Städtchen Warwick gab es neben ein paar alten Stadttoren auch ein Gildehaus aus dem späten 14. Jahrhundert zu sehen, in dem der Earl of Leicester 1571 ein Heim für alte Soldaten einrichtete. Bis heute soll das sogenannte Lord Leicester Hospital, das trotz des Namens nichts mit einer medizinischen Einrichtung zu tun hat, diesem Zweck dienen.

Nach einer Pause vor der 1670 gebauten Markthalle, wo wir eine ganze Weile die Sonnenstrahlen genossen, entschieden wir uns, den Nachmittag dem 12 km entfernten Baddesley Clinton, einem Herrensitz des späten Mittelalters, zu widmen. Es gibt in der näheren und weiteren Umgebung eine beträchtliche Anzahl von Sehenswürdigkeiten, neben anderen Schlössern und Landsitzen auch die Stadt Coventry, die durch die Bombardierung im November 1940 traurige Berühmtheit erlangte als die deutsche Wehrmacht sie in Schutt und Asche legte. Auch Royal Leamington Spa, ein weiterer Kurort aus viktorianischer Zeit, wäre sicherlich auch einen Besuch wert gewesen.

Baddesley Clinton erreicht man über eine schmale, von Bäumen gesäumte Straße. Vom Eingangstor wand sie sich einen guten Kilometer durch Wiesen, auf denen Schafe grasten. Nach dem anstrengenden Tag im Auto und den vielen Eindrücken, die in den ersten Tagen bereits auf uns eingeprasselt waren, war diese ländliche Idylle eine regelrechte Wohltat.

Da das Anwesen zum National Trust gehört, hatten wir freien Eintritt. Das mit einem Wassergraben umgebene Haus wurde Anfang der 1400er Jahre erbaut und seit 1699 kaum verändert. Zwölf Generationen lang wurde es vom Vater an den Sohn weitergeben, auch in schwierigen Zeiten.

Am Eingang begrüßte uns wieder ein rüstiger Rentner aus dem schier unendlichen „Freiwillingen-Korps“ des National Trust. Er nahm sich Zeit, erläuterte jedem Gast ausführlich anhand des ausgehändigten Plans die Örtlichkeiten und machte das eine oder andere Spässchen. „Willkommen“, sagte der Mann als wir an der Reihe waren. Auf unserem National Trust-Pass war unsere Nationalität vermerkt. Wir waren überrascht, dass er Deutsch sprach, er musste jedoch einräumen, dass die Begrüßung bereits sein ganzer deutscher Sprachschatz war. Er habe Glück, dass ich ihn nicht mit einem Wortschwall Deutsch geantwortet hätte, scherzte ich. Er bedauerte die Faulheit der Engländer, was das Erlernen von Fremdsprachen angehe. Wir würden auch bloß vorgeben, Englisch zu beherrschen, trösteten wir den Mann, worauf er, höflich wie er war, unser Englisch lobte. Es sei harte Arbeit gewesen versicherten wir ihm.

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Seinen Namen hat Baddesley Clinton von dem Angelsachsen Baeddi, der das Grundstück im Wald von Arden rodete und der Familie Clinton, die im 13. Jahrhundert den Wassergraben aushob. 1438 kaufte es der Anwalt John Brome, der dort einen Teil des Anwesens aus Sandstein erbaute. Über seine Enkelin gelangte das Haus in den Besitz der Familie Ferrer. Ein Großteil des Herrenhauses wurde 1526 von Edward Ferrer erbaut. Sein Nachfolger Henry Ferrer errichtete zwischen 1564 und 1633 den großen Saal und den Garten. Auch ein Teil der Glasfenster stammt aus dieser Zeit.

Henry vermietete 1590 das Haus an zwei katholische Nonnen. Die Familie war auch in schwierigen Zeiten stets dem katholischen Glauben treu geblieben. Damals drohte dem protestantischen England eine Invasion der papsttreuen Spanier. Die katholische Kirche galt als subversiv, Jesuiten wurden mit dem Tode bestraft. Die Ferrers nahmen Priester auf und riskierten damit ihr Leben.

Die Guides des National Trust zeigten uns das Versteck, das sich im Toilettenschacht befindet. Es war möglich, an einem Seil aus dem ersten Stock in den stillgelegten Schacht zu gelangen, in dem etwa zwölf Geistliche Platz fanden. Das Versteck soll von einem Laienbruder gebaut und mindestens ein Mal genutzt worden sein. Während die Schutzsuchenden überlebten, wurde der Erbauer an einem anderen Ort von der Regierung gefangengenommen und zu Tode gefoltert.

Ein Blutfleck vor dem Kamin der Bibliothek wurde lange Zeit mit dem Mord an einem Priester verbunden. Historisch habe sich diese Geschichte aber als falsch erwiesen, erläuterte uns ein gesprächiger älterer Herr, der die Bibliothek beaufsichtigte. Dieser Teil des Hauses sei erst nach dem Mord errichtet worden. Jemand habe sich wohl einen Spaß erlaubt und vor dem Kamin Tierblut verschüttet, um die Hausherrin zu erschrecken.

Es sind dieses unglaubliche Detailwissen der Freiwilligen und ihr leichter und humorvolle Umgang mit der Geschichte, die beim Besuch der vom National Trust verwalteten Anwesen immer wieder Freude machen.

Seit dem Ende des 17. Jahrhunderts erschwerten Geldsorgen den Unterhalt von Baddesley Clinton. Erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts verbesserte sich die Lage. Marmion Ferrer heiratete Rebecca Orpen. Deren Tante Lady Georgina Chatterton und ihr zweiter Ehemann Edward Dering zogen auf das Anwesen. Alle vier widmeten sich der Wiederherstellung des Hauses. Lady Chatterton war eine erfolgreiche Autorin. Schon 1837 hatte sie anonym zwei Märchenbände veröffentlicht. Die erste Auflage ihrer „Rambles in the South of Ireland“, ein Reisebericht über Irland, war nach wenigen Wochen ausverkauft. Es folgten weitere Reiseberichte, Romane, Geschichten und Gedichte. Chatterton starb 1876 auf Baddesley Clinton im Alter von 69 Jahren.

1940 wurde das Haus von einem entfernten Cousin erworben. Thomas Walker und seine Frau Undine restaurierten es mit der Absicht, es dem National Trust zu übergeben. Ihrem Sohn Thomas Ferrer-Walker, der bis 1970 dort lebte, gelang es schließlich, die für die Fertigstellung fehlenden Mittel aufzubringen. Seit 1980 ist Baddesley Clinton im Besitz des National Trust, zwei Jahre später wurde es der Öffentlichkeit zugänglich gemacht.

Eine ganze Weile verbrachten wir im Museumscafé in der Sonne, wanderten durch den liebevoll gepflegten Gemüse- und Blumengarten und freuten uns über das überraschend gute Wetter. Eigentlich waren Schauer angesagt. Die blieben glücklicherweise aus und mit 19 Grad war es recht angenehm. Bei 28 Grad im Schatten wäre unser Besuchsprogramm kaum so leicht zu bewältigen gewesen.

Wie auf vielen anderen Anwesen konnte man auch hier im museumseigenen Shop Pflanzen für den heimischen Garten kaufen. Eine schöne Idee, die die sehr geschmackvolle Auswahl an Büchern und Souvenirs angenehm ergänzte.

Abends entschieden wir uns für ein Essen in einem Pub, das William uns ebenfalls empfohlen hatte, montags war es allerdings geschlossen gewesen. Heute sollte es eine Chance bekommen. Die Fuzzy Duck – die fusselige Ente – ist ein Pub der jüngeren Generation. Es ist nicht in dunklem Holz gehalten, sondern hat eine Einrichtung in hellen Farben und mutet vom Stil her eher skandinavisch an. Die Anordnung ist aber ähnlich: eine Bar mit Zapfhähnen und darum herum gruppiert einige Holztische und Stühle.

Die Karte ist ebenfalls etwas jünger und spritziger: Wir entschieden uns für panierten Kabeljau mit Pommes Frites, die typisch englischen Fish and Chips. Dazu bestellte ich wieder einen Cider. Als die freundliche ukrainische Kellnerin mir eine Auswahl nannte, bat ich um eine leichte, fruchtige Variante. Was dann passierte, darüber amüsierten wir uns den ganzen Abend: sie brachte eine Flasche Cider, der mit Mango und Himbeeren aromatisiert war. Das seltsame Getränk, das so schlecht nicht schmeckte, war ein schwedisches Erzeugnis!

Den ruhigeren aber dennoch erlebnisreichen Tag ließen wir gemütlich ausklingen und bereiteten uns gedanklich auf die Weiterfahrt vorbei an Birmingham Richtung Norden vor.

Entlang der Themse durch die Cotsworlds

Vom Barclay Farmhouse führte unsere Fahrt im Bogen um London herum vorbei an Oxford bis nach Halford in der Nähe von Stratford-on-Avon. Für die gut 250 km brauchten wir den ganzen Tag.

In England hatten die Ferien begonnen und alles, was Räder hatte, schien auf den Straßen zu sein. Zunächst stockte der Verkehr um die Autobahnauffahrt bei Sevenoaks. Wir wählten deshalb eine Route über die Landstraße zur nächsten Auffahrt, auf der ebenfalls viel Verkehr war. Durch hübsche Dörfer fuhren wir auf romantischen Straßen, links und rechts mit Hecken und Bäumen bewachsen, durch die Mäh- und Schneidemaschinen einen Weg gefräst hatten. Immer wieder hatte die Vegetation Tunnel üppigen Grüns entstehen lassen.

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Die schmalen Straßen winden sich in vielen Kurven durch die hügelige Landschaft. Als Fahrer muss man sich sehr konzentrieren, denn der Asphalt ist oft geflickt und mit Schlaglöchern übersät. In regelmäßigen Abständen haben sich die Gullys am Straßenrand Zentimeter tief abgesenkt. Eine holprige Angelegenheit, die dem Fahrwerk gar nicht gut tut. Auch auf der Autobahn taucht unverhofft so manche Unebenheit auf. Englands Straßen sind in keinem guten Zustand!

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Dichter Verkehr herrschte um London. Da die Rushhour längst vorüber war, handelte es sich wohl um Reiseverkehr. Engländer verreisen viel im eigenen Land. Zu den beliebten Zielen gehören die Badeorte im Süden und Schottland und der Lake District im Norden.

Auf der Autobahn am Flughafen Heathrow vorbei bewegten wir uns teilweise im Stop-and-go. Bei Windsor verließen wir die M4 für einen schnellen Blick auf Windsor Castle. Die gehisste Flagge auf einem der Türme des Schlosses in dem Vorort von London zeigte uns, dass Ihre Majestät gerade zu Hause war. Die Königin hatte ihren Urlaub, den sie jedes Jahr im Juli auf Schloss Balmoral in Schottland verbringt, bereits hinter sich.

Das kleine Städtchen Windsor an der Themse war voll mit Touristen: Gruppen von Asiaten, die hinter ihrem mit einem Fähnchen wedelnden Guide herliefen, Menschentrauben vor den Andenkenläden und Schlangen von Autos. Die Parkplätze in der Nähe waren so überlastet, dass ein kurzer Fotostopp gar nicht möglich war.

Also zurück auf die Autobahn nach Henley-on-Thames, einem hübschen Ausflugsort, den gestresste Londoner gerne am Wochenende nutzen, um einen entspannten Tag am Fluss zu verbringen. Seit 1839 findet hier jährlich im Juli die Royal Regatta statt. Die traditionsreiche Ruder-Veranstaltung ist einer der gesellschaftlichen Höhepunkte der Oberschicht. Wegen der geringen Breite der Themse können jeweils nur zwei Boote auf der zwei Kilometer langen Strecke gegeneinander antreten. Niedrige Ausflugsschiffe und jede Menge kleiner Sportboote lagen am Ufer von Henley. Wir fuhren weiter, denn auch hier war es recht wuselig und vor uns lag noch einiges an Strecke.

Leider verpassten wir die Landstraße, die an der Themse entlang führte. Das Navi hatte eigenständig den schnelleren Weg in das Doppelstädtchen Goring und Streatley gewählt. Die beiden Orte liegen rechts und links der Themse, die hier zu mehren Wehren gestaut wird. Romantische Schleusen helfen den Sportbooten, die Höhenunterschiede zu überwinden. Es gibt nicht wenige Engländer, die ihre Ferien damit verbringen, einen der Flüsse hinauf- oder hinabzuschippern.

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Das Wetter ließ ein gemütliches Kaffeetrinken am Ufer zu. Zwischendurch hatten die Wolken gelegentlich ein paar Tropfen vom Himmel fallen lassen, hin und wieder ließ sich auch die Sonne blicken, bei nicht unbedingt hochsommerlichen 19 Grad.

Wir riefen bei unserem nächsten B&B an, wo wir zum Tee erwartet wurden. Eine Ankunft um 16 Uhr war nicht mehr machbar. Eigentlich hatten wir einen Besuch von Blenheim Palace, dem Geburtsort von Winston Churchill geplant, doch die Strecke, die auf der Karte so unproblematisch erschien, entpuppte sich doch länger als gedacht – nicht nur wegen der angespannten Verkehrslage. Wir mussten den Besuch des Palasts auf ein anderes Mal verschieben. Man muss Zeit mitbringen, allein schon für die Park- und Gartenanlagen. Auch für das Städtchen Woodstock, in dem Blenheim liegt, braucht man etwas Muße.

Über kleine Land- und breitere Schnellstraßen bewegten wir uns in die Cotsworlds. Der Landstrich, der unter anderem die Grafschaften Gloucestershire, Oxfordshire und Warwickshire umfasst, hält genau das bereit, was gemeinhin mit „Merry Old England“ assoziiert wird: sanfte grüne Hügel, durch die sich Themse und Avon schlängeln, schiefe kleine Häuser aus grauem Kalkstein, herrliche Bauerngärten.

Im Mittelalter hatte die Region vom Wollhandel profitiert. Heute ist es – ähnlich wie in Kent – die Nähe zu London, die wohlhabende Städter lockt. Viele haben hier, wo England am ursprünglichsten zu sein scheint, ihren Zweitwohnsitz oder verbringen ihren Ruhestand.

Auf unserer ersten England-Reise vor drei Jahren hatten wir die Gegend näher erkundet. Untrennbar mit ihr verbunden ist eine Design-Bewegung, die Art Noveau, Wiener Sezession und Bauhaus beeinflusste: das Arts and Crafts Movement. Seinen Namen hat es von der „Arts and Crafts Exhibition Society“, die 1887 gegründet wurde.

Schon während der 1840er Jahre waren die verheerenden sozialen Auswirkungen industrieller Fertigung in Großbritannien deutlich geworden. Doch erst in den 1860er und 1870er Jahren begannen Architekten, Designer und Künstler darauf zu reagieren. Eines ihrer wichtigsten Anliegen war, Kunst und Bildung jedermann zugänglich zu machen. Die Arts and Crafts-Bewegung idealisierte das Mittelalter und seine Handwerkskunst. Damit sah sie sich als Gegengewicht zur Industrie mit seiner als seelenlos empfundenen Massenproduktion. Möbel und Gebrauchsgegenstände sollten einfach und robust sein. Im Mittelpunkt stehen sollten das Material und die zur Kunst erhobenen Fertigkeiten des Handwerks.

Die beiden einflussreichsten Vertreter dieser Bewegung waren der Kritiker John Ruskin (1819 – 1900) und der Designer und Schriftsteller William Morris (1834 – 1896). Ruskin untersuchte das Verhältnis zwischen Kunst, Gesellschaft und Arbeit. Morris setzte seine Ideen um, wobei er großen Wert auf die Freude an der Arbeit und auf die natürliche Schönheit des Materials legte. Außerdem machte er sich für den Erhalt historischer Gebäude stark. Seine 1877 gegründete „Society for the Protection of Ancient Buildings“ gilt als einer der Vorläufer des National Trust.

Morris liebte das Landleben. Nach Kelmscott Manor, seinem Sommerhaus in den Cotswolds, benannte er später seine Druckerei und auch sein Stadthaus in London. Mit seinen berühmten Stoff- und Tapetenmustern holte er Fauna und Flora ins Haus und prägte Ende des 19. Jahrhunderts das, was man heute mit dem englischen Landhausstil verbindet. Inspiration dafür fand er im Garten von Kelmscott Manor und auf Streifzügen in der Umgebung. Zu dieser Zeit war Morris bereits zu einem international anerkannten und erfolgreichen Designer und Produzenten von Möbeln, Teppichen, Tapeten und Stoffen geworden. Für die Reichen und Schönen richtete er ganze Häuser ein. Morris´ Ideen wurden von Handwerksgilden und Gesellschaften aufgenommen, Arts and Craft entwickelte sich zu einem einheitlichen Stil von Architekten, Malern, Bildhauern und Designern.

Ebenfalls in den Cotswolds befindet sich die von Charles Robert Ashbee begründeten School of Handicraft. Der aus einer wohlhabenden Familie stammende Architekt und Kunsthandwerker hatte großen Erfolg mit seiner Schule, die ursprünglich in einem Londoner Armenviertel gegründet worden war und dann nach Chipping Camden verlegt wurde. Schnell gab es weitere Ausbildungsstätten in Glasgow, Liverpool und Birmingham. Die Arbeiten wurden in London, Düsseldorf, München und Wien ausgestellt. Ashbee, dessen Mutter aus Hamburg stammte, wurde Ehrenmitglied der Münchner Akademie. 1915 ging er als Professor für englische Literatur nach Kairo, in Jerusalem war er einige Jahre als städtebaulicher Berater tätig. Schon Ende des 19. Jahrhunderts hatte Ashbee Kontakt zu dem amerikanischen Architekten Frank Lloyd Wright geknüpft, der die Ideen der Arts and Crafts-Bewegung in den USA vertrat.

William Morris oder der Stoff, aus dem die Grünen sind“ überschrieb die Wochenzeitung Die Zeit 1983 einen Artikel über den Designer. Tatsächlich lassen sich erstaunliche Parallelen ziehen zwischen der Arts and Craft-Bewegung und unserer heutigen Zeit: Die tiefe Sehnsucht nach einem ursprünglichen, einfachen Leben etwa, wie sie an der Millionenauflage der Zeitschrift „Landlust“ deutlich wird. Trends wie „Slow Food“ oder regionaler Anbau und die neuerdings dem Management verordnete „Achtsamkeit“. Ebenso wie das Arts and Crafts Movement leben allerdings auch die heutigen Protagonisten mit Widersprüchen. So haben die zu Beginn unseres Jahrhunderts von Marketingstrategen entdeckten technikaffinen und zahlungskräftigen „LOHAS“ wohl eher wenig zu tun mit den ursprünglichen Ideen der Nachhaltigkeitsbewegung. Morris´geschäftstüchtige Vermarktung seines Schaffens wiederum lässt sich so gar nicht in Einklang bringen mit seinem Eintreten für den Sozialismus: Gemeinsam mit seiner Tochter Mary trat er der Social Democratic Federation bei und gründete nach deren Spaltung die Socialist League. Seine Vorstellungen von einer idealen sozialistischen Gesellschaft hat er in seinem Roman „News from Nowhere“ dargelegt. Seinen eigenen Mitarbeitern gewährte er unterdessen keine Mitbestimmung oder gar eine Gewinnbeteiligung.

Auf unserer Fahrt passierten wir Burford, einen mittelalterlichen Ort, 30 km entfernt von Oxford, der als „gateway to the Cotswolds“ bezeichnet wird. Durch die geschäftige kleine Stadt, die ich von herrlichen Ferien während meiner Schulzeit kannte, bewegten wir uns im Stop-and-go. Zumindest hatten wir so Gelegenheit, auch mal einen ausgiebigeren Blick nach rechts und links zu werfen. Sightseeing ohne aus dem Auto aussteigen zu können, überzeugte uns allerdings nicht. Dass Blenheim Palace ersatzlos von der Liste gestrichen werden musste, machte uns beide etwas unzufrieden. Wir beschlossen, in den folgenden Tagen weniger ambitioniert zu sein und mehr Zeit für Besichtigungen einzuräumen.

Uns brummte der Kopf und wir waren das Sitzen leid. Von Streatley brauchten wir gut eine Stunde bis nach Shipston-on-Stour, wo ich das B&B vermutete. Dort angekommen stellte sich allerdings heraus, dass unsere Unterkunft nicht in oder außerhalb des netten Ortes lag, sondern 6 km weiter in Halford. Die Adressen in England haben so ihre Tücken. Es ist so ähnlich als würde man sagen, man lebe in Lüneburg bei Hamburg…

Das Navi führte uns zuverlässig zur Adresse. Vor einem Haus in einer wenig belebten Straße angekommen, wollten wir allerdings nicht glauben, dass wir richtig waren. Nirgends gab es ein Schild mit dem Hinweis auf ein Bed and Breakfast. In einem kurzen Telefonat mit den Besitzern erfuhren wir, dass wir direkt vor ihrer Tür standen. Der freundliche Hausherr William öffnete ein großes hölzernes Tor. Einige Meter weiter hätten wir einen weiteren Eingang mit einem weißen Gatter gefunden, auf dem in großen Lettern „Old Manor House“ stand. Auf das Hinweisschild, dass hier eine Gelegenheit zum Übernachten bestand, hatten die Eigentümer allerdings verzichtet – britisches Understatement, das das Ganze fast schon zu einem Geheimtipp für Insider machte.

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William, ein freundlicher Mitfünfziger, den die Aura eines erfolgreichen Geschäftsmannes umwehte, der hier auf seinem Landsitz weilte, begrüßte uns herzlich, nachdem wir auf den mit Kies ausgelegten Hof gefahren waren. Das Ensemble aus dem sehr alten, schiefen Haupthaus und den ehemaligen, zu winzigen Ferienwohnungen umgebauten Ställen wirkte sehr einladend und gemütlich. William nahm uns ins Haus, zeigte uns unser Zimmer im ersten Stock und das riesige Wohnzimmer im Erdgeschoss, in dem die Hausgäste abends auf den großen Sofas ihren Tag ausklingen lassen können. Es war ein wenig wie in einer Rosamunde Pilcher-Verfilmung. Unser Zimmer hatte sehr tiefe Decken. Beim Eintreten müssen größere Leute den Kopf einziehen, die Böden knarren und haben sich derart verzogen, dass zwischen dem Fenster und in der Zimmermitte ein beachtlicher Höhenunterschied besteht. Weil alles so klein und verwinkelt ist, fühlt man sich ein wenig wie in einer Kajüte.

William organisierte uns schnell noch einen Tisch im Howards Arms im Nachbarort Illmington, dann verschwand er irgendwo im verwinkelten Inneren des geräumigen Hauses. Hungrig nach dem langen Tag brachen wir zum Abendessen auf, das abermals in einer sehr gemütlichen Mischung aus Kneipe und Landgasthaus, den hier so charakteristischen Pubs einnahmen: ein rustikaler Salat mit Hühnchen, gegrillte Lammkoteletts mit Brokkoli und zum Abschluss eine Crème brûlée. Ich probierte den aus lokaler Produktion stammenden Cider. Wenig später fielen wir erschöpft in die zahlreichen Kissen, um uns für neue Abenteuer auszuruhen.

Über Sissinghurst, Scotney Castle und Bateman´s nach Rye

Morgens schien die Sonne, wohl der schönste (und wärmste) Tag auf unserer Reise, denn für die nächste Zeit sagten sowohl deutsche als auch englische Wetterdienste unbeständiges und kühles Wetter voraus.

Lynn erwartete uns bereits mit ihrem mehrfach prämierten Frühstück: Das kunstvoll zu einem Törtchen aufgetürmten „full English Breakfast“ bestand aus einer dicken Scheibe magerem Speck als Boden, je einer Schicht gebackener Tomaten und Pilze und einem Spiegelei als Abschluss. Dazu gab es warme Croissants, die so frisch waren, dass sie einem beim Hineinbeißen zerkrümmelten. Wir bestrichen sie mit der leckeren Bitterorangen-Marmelade. Das gemütliche Mahl war mit einer Portion frischem Obstsalat eröffnet worden. Die Tasse Tee mit der obligatorischen Milch schmeckte hier natürlich ganz besonders gut.

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Derart gestärkt brachen wir auf zum Schloss Sissinghurst. Hier waren wir vor drei Jahren ebenfalls gestartet, denn man kann dort den Gutschein für den National Trust-Pass einlösen. Der „National Trust for Places of Historic Interest or Natural Beauty“ verwaltet in England viele Sehenswürdigkeiten. Die gemeinnützige Organisation wurde 1895 von der Sozialreformerin Octavia Hill, dem Rechtsanwalt Sir Robert Hunter und dem Geistlichen Canon Hardwicke Rawnsley gegründet. Ihr Ziel war es, Architektur und Natur von historischem Interesse oder besonderer Schönheit zu bewahren. Sie waren überzeugt, dass nur der Privatbesitz diese vor Zerstörung oder Verbauung schützen könne.

Wie modern diese Idee ist, zeigt das Engagement des 2015 verstorbenen Unternehmers Douglas Tompins und seiner Frau Kristine. Mit Outdoor-Bekleidung der Marken „The North Face“ und „Patagonia“ und dem Mode-Label „Esprit“ haben sie ein Vermögen verdient. Um Patagoniens einzigartige Schönheit zu erhalten, kauften sie ganze Landstriche, forsteten sie auf und sorgten für die Wiederansiedlung seltener Tierarten. Weltweit wurden sie zu den größten privaten Landbesitzern. Erst kürzlich hat Kristine Tomkins Chile ein riesiges Areal gespendet. Die Regierung gab Land dazu, daraus sollen in den nächsten Jahren fünf Nationalparks entstehen.

Der National Trust besitzt in England, Wales und Nordirland 248.000 Hektar Land, darunter ein Viertel des Lake Districts. 500 historische Gebäude, Denkmäler, Gärten, Parks und Naturschutzgebiete warten darauf erkundet zu werden. Einmal in der Hand des National Trusts, dürfen diese laut Satzung nicht verkauft werden.

Die hohen Erbschaftssteuern in Großbritannien zwangen viele Adlige nach dem Zweiten Weltkrieg ihr Eigentum dem Staat zu übergeben, der überließ es dem National Trust. Häufig vereinbaren die Besitzer ein Wohnrecht, weshalb einige Schlösser nur eingeschränkt besichtigt werden können.

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Unterhalt und Erhalt werden über die Beiträge von 4,5 Millionen Mitgliedern, Spenden und Erbschaften finanziert. Zusätzliche Erträge erwirtschaftet der National Trust durch Andenkenläden, Restaurants und Vermietungen.

Mitglieder haben freien Eintritt zu den Sehenswürdigkeiten. Touristen können vor Reiseantritt beim Britischen Fremdenverkehrsamt einen Pass erwerben. Für 30 bzw. 35 Euro sehen Touristen sieben bzw. 14 Tage lang alle Parks, Gärten und Schlösser, Burgen und Herrenhäuser des National Trust offen. Das lohnt sich bereits, wenn man drei oder vier von ihnen besucht.

Über 61.000 Freiwillige unterstützen die Organisation, die der Deutschen Stiftung Denkmalschutz als Vorbild diente. Die Freiwilligen arbeiten als Führer, im Eintrittskartenverkauf, auf den Parkplätzen oder in den Gärten und sorgen so dafür, dass das Motto des National Trust erlebbar wird: „For ever, for everyone“.

Auf Schloss Sissinghurst trafen wir auf eine muntere Truppe Pensionäre, die gleich erfahren wollte, aus welchem Land wir kamen. Die Freiwilligenkultur, die in England so ausgeprägt ist, macht den Besuch von kulturellen Stätten überaus angenehm: Es erwarten einen keine bärbeißigen Parkwächter oder muffelige Eintrittskartenverkäufer, sondern Menschen, die sich freuen, Teil eines Teams sein zu dürfen und die überaus stolz sind, bei Fragen weiterhelfen zu können. Sie lieben ihren kleinen Job derart, dass man, kommt man einmal mit ihnen ins Gespräch, viel mehr erfährt als aus jedem Reiseführer. Es ist, als hätten sie die vielen kleinen Geheimnisse und Anekdoten, die sich um die jeweilige Sehenswürdigkeit ranken, inhaliert und atmeten sie nun, da sie gefragt sind, wieder aus. Ein Hauch lebendig gelebter Historie umweht einen, ohne dass man sich auf unangenehme Weise belehrt oder unterwiesen fühlte.

In Sissinghurst entdeckten wir einen riesigen Gemüsegarten, der – so erfuhren wir von einer der vielen liebevoll formulierten Tafeln – von zwei Gärtnern und 25 Freiwilligen bewirtschaftet wird. 2016 wurden fünf Tonnen Gemüse geerntet, das von dem museumseigenen Restaurationsbetrieb verarbeitet wurde.

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Der herrliche Blumengarten, für den Sissinghurst berühmt ist, war uns einen zweiten Rundgang wert. Zuhause Gebliebene können auf einem eigenen Blog erfahren, was sich im Garten gerade so tut.

Das Gutshaus entstand bereits 1480 und wurde 1756 der Regierung überlassen, die es – wie bereits berichtet – als Gefängnis für französische Kriegsgefangene nutzte. Aus dieser Zeit stammt auch die Bezeichnung „Castle“. Nach dem Siebenjährigen Krieg ein halbes Jahrhundert als Armenhaus genutzt, gingen die verbliebenen Gebäude an eine Familie, die einen Bauernhof auf dem Gelände errichtete. Die alten Gebäude waren kaum noch bewohnbar.

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1930 kauften die Schriftstellerin Vita Sackville-West und ihr Mann Harald Nicolson das total verfallene Sissinghurst. In den folgenden Jahren legten sie die Gärten an, die bis heute erhalten geblieben sind und zu den beliebtesten Anlagen der Welt gehören. Jährlich kommen mehr als 160.000 Besucher, um sich an dem fünf Hektar großen Gelände, das in zehn abgeschlossene Gärten unterteilt ist, zu erfreuen. Mannshohe Hecken trennen den weißen Garten vom Rosen- oder Kräutergarten.

Charakteristisch für Sissinghurst ist der Doppel-Turm, in den sich die Schriftstellerin, die vor allem durch ihre Beziehung zu Virginia Woolf bekannt wurde, zum Lesen und Arbeiten zurückzog. Es heißt, dass Sackville-West der Freundin für ihren Roman „Orlando“ als Vorbild gedient haben soll.

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Vom Turm aus hat man einen wunderbaren Blick auf das ganze Anwesen. Komplizierte Verwandtschaftsverhältnisse machten es unmöglich, dass Sackville-West das so geliebte Knole House ihres Vaters, das etwa 30 km entfernt liegt, erben konnte. Ihre ganze Aufmerksamkeit schenkte sie daher Sissinghurst. Ihre Leidenschaft für das Gärtnern teilte sie mit den Lesern des „Observer“, für den sie Gartenkolumnen schrieb.

1947 ging Knole an den National Trust. Sackville-West betrachtete dies als Verrat an der Familie. Es ist eine Ironie der Geschichte, dass Sissinghurst später ebenfalls in den Besitz der von Sackville-West so verhassten Organisation überging. Zumindest ist dadurch gewährleistet, dass sich die Öffentlichkeit auch weiterhin an dem schönen Anwesen und seinen Gärten erfreuen kann. Schon 1938 hatten Sackville-West und ihr Mann diese für Besucher geöffnet.

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Der 1855 erbaute Bauernhof auf dem Gelände hat die für den „Weald of Kent“ so typischen weißen, abgeknickten Spitzen der Hopfendarren. Hopfen hat einen hohen Wassergehalt und muss, um gelagert werden zu können, getrocknet werden. Wegen seiner Hopfenfelder und Obstgärten wird die Grafschaft Kent auch der „Garten Englands“ genannt. Der Schriftsteller George Orwell hat das „Hop-Picking“, bei dem sich die arme Londoner Stadtbevölkerung bis in die 1950er Jahre hinein jedes Jahr ein Zubrot verdiente, in seinem Buch „A Clergyman’s Daughter“ beschrieben.

Inzwischen kommen aus London nicht mehr Saisonarbeiter, sondern es sind vor allem die Wohlhabenden, die die lieblich gewellte Landschaft für sich entdecken. Die Nähe zur Hauptstadt macht sogar das Pendeln möglich, was die Immobilienpreise entsprechend steigen ließ. In den kleinen Ortschaften sprechen Antiquitätengeschäfte und erlesene Boutiquen dieses Publikum an.

Der „High-Weald“, geschützt als „Area of Outstanding Beauty“, erfreut sich zunehmender Beliebtheit, wie uns Lynn berichtete. „Weald“ kommt aus dem Altenglischen und bedeutet „Wald“. Ursprünglich war Kent ganz und gar von Wäldern bedeckt. Im Laufe der Jahrhunderte fielen große Teile der Landwirtschaft und der Industrie zum Opfer. Produziert wurde Tuch, später folgte die Eisenindustrie mit ihren Schmelzöfen.

Die enge Verbindung zur Landschaft wird an den Ortsnamen deutlich: viele enden auf „-hurst“ (Wald) oder „-den“ (Lichtung), so wie auch Biddenden, in dem unser B&B liegt. In dem kleinen Städtchen befindet sich das älteste Weingut in Kent, das auch Cider hergestellt. Bekannt ist der Ort aber auch für siamesische Zwillinge, die hier im 12. Jahrhundert gelebt haben sollen. Elisa und Mary wurden nur 34 Jahre alt und starben sechs Stunden nacheinander. Nach ihnen ist der „Chalkhurst Trust“ benannt. Seit 1134 wird am Ostermontag an die älteren Leute in Biddenden Essen verteilt.

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Nach einer kleinen Kaffeepause im Sonnenschein ging es weiter zu einem kleinen Flugplatz in der Nähe. Beim Schlendern durch die Gärten waren uns am Himmel historische Flugzeuge aufgefallen. Von der fröhlichen Rentner-Truppe am Eingang erfuhren wir, dass auf einem kleinen Sportflugplatz in etwa 10 km Entfernung ein Fest veranstaltet wurde. So erweiterten wir unsere Erkundungstour und landeten auf einer großen Wiese, auf der reichlich Trubel herrschte: neben einigen historischen Flugzeugen hatten sich auch historische Automobile (vornehmlich aus den 50er Jahren) eingefunden. Es herrschte Volksfeststimmung mit kleinen Buden und Menschen, die sich am Rande des Flugfeldes mit ihrem Picknick niedergelassen hatten.

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Wir setzten unsere Schlösser-Tour fort. Es folgte Scotney-Castle, ein Ensemble aus einer Wasserburg-Ruine und einem auf einem Hügel darüber gelegenen Herrenhaus, selbstverständlich in einem weitläufigen, verwunschenen Park gelegen. Das zwischen 1837 und 1841 erbaute Herrenhaus gelangte nach dem Tod seines letzten Besitzers Christopher Hussey in den Besitz des National Trust. Für die Öffentlichkeit zugänglich ist es erst seit 2007, nachdem seine Frau Elizabeth gestorben war. In den 1970er und 1980er Jahren soll die spätere Premierministerin Margaret Thatcher eine der Wohnungen vom National Trust gemietet haben. Sie nutzte diese als Wochenenddomizil.

Das Herrenhaus ersetzte die alte Burg aus dem 14. Jahrhundert, deren Ruine als Teil der Gartenkunst erhalten wird. Sie ist umgeben von einem Wassergraben. Auf einer kleinen Insel findet sich ein altes, verfallenes Bootshaus.

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Dann ging es weiter zu unserem eigentlichen Ziel, dem Wohnhaus des Schriftstellers Rudyard Kipling. Der Autor der berühmten Dschungelbücher kaufte Bateman´s 1902 und lebte und arbeitete hier bis zu seinem Tode 1936. Eingebettet in die hügelige Landschaft des Weald, ist das 1634 erbaute Anwesen ganz so, wie man sich den Rückzugsort eines Schriftstellers vorstellt. In seinem Arbeitszimmer schien es, als hätte er den Schreibtisch nur kurz verlassen, um ein wenig durch den Garten und die angrenzenden Ländereien zu streifen. Stück für Stück hat Kipling Land dazu gekauft, u.a. auch mit dem Geld, das er 1907 für den Nobelpreis erhalten hatte. In der Garage konnte man seinen blauen Rolls-Royce bewundern.

Wie sehr auch er seinen selbst angelegten Garten liebte, hat Kipling in dem Gedicht „The Glory of the Garden“ beschrieben.

OUR England is a garden that is full of stately views,
Of borders, beds and shrubberies and lawns and avenues,
With statues on the terraces and peacocks strutting by;
But the Glory of the Garden lies in more than meets the eye.

Heißt es in der ersten Strophe.

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Den Tag beschlossen wir in dem kleinen Städtchen Rye mit seinen idyllischen, mit Kopfstein gepflasterten, steilen Gässchen. Im Mittelalter gehörte der Ort zu den „Cique Ports and Two Ancient Towns“, Hafenstädte, die besondere Privilegien genossen, weil sie für den Bestand, den Erhalt und die Ausrüstung der Kriegsflotte sorgten. Im 11. Jahrhundert mit Hastings, Romney, Hythe, Dover und Sandwich ins Leben gerufen, kamen Rye und das benachbarte Winchelsea später hinzu. 1278 erhielten alle eine Royal Charter, die die Befreiung von Steuern und eine eigene Gerichtsbarkeit beinhaltete.

Heute ist Rye versandet und vom Meer abgetrennt. Schon 1370 hatten die Franzosen den Ort gestürmt und zerstört. Nach dem Wiederaufbau lebte die Stadt vom Fischfang und dem Schmuggel.

Wir wanderten die Mairmaid Street mit ihren kleinen, schiefen Fachwerkhäusern zum Hafen hinab. In einem der alten schwarz geteerten Speicherhäuser aßen wir im rustikalen The Ship Inn zu Abend.

Wie oft der amerikanische Schriftsteller Henry James während seiner Aufenthalte zwischen 1898 und 1916 wohl durch die pittoreske kleine Stadt gestreift war, auf der Suche nach Inspiration für einen seiner Romane?

Samstag, 29.07.

Nach unserem Start am frühen Samstagmorgen um fünf Uhr sind wir schon um 14 Uhr am Fährterminal in Dünkirchen angekommen. Die Autobahnen waren frei und ab Nordrhein-Westfalen ließ auch der teilweise recht starke Regen nach. An der Küste kam sogar blauer Himmel zum Vorschein und die Sonne ließ sich kurzfristig blicken. Bis zur Abfahrt der schon vor Monaten gebuchten Fähre hatten wir viel Zeit. Man hatte uns aufgegeben, uns mindestens 45 Minuten eher einzufinden, in den Sommermonaten sogar 90 Minuten eher. Wir waren überrascht, dass schon so viele Fahrzeuge in Reihen auf Warteposition standen, mehrheitlich Engländer, ein paar Belgier und Niederländer, deutsche Autos konnte man an einer Hand abzählen.

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Zoll und Passkontrolle hatten wir passiert (die britischen Grenzer wollten sogar kurz einen Blick in unseren Kofferraum werfen – wir vermuten, wegen der Flüchtlinge, die besonders vom benachbarten Calais aus als blinde Passagiere nach England zu gelangen versuchen). Wir packten unser mitgebrachtes Picknick aus, um uns die Wartezeit bis zur Abfertigung zu vertreiben. Kaum hatten wir die Gabeln zur Hand und machten uns mit Appetit über das verspätete Mittagessen her, kam Bewegung in die Schlange vor uns: die Autos starten. Wir wollten bloss ein wenig aufrücken, da bewegten wir uns immer näher auf die wartende Fähre zu. Ein Mitarbeiter von DFDS-Seaways wank uns heran. Wir wunderten uns sehr und machten einen weiteren Mitarbeiter, der uns durch ein Tor auf die Fähre winken wollte, darauf aufmerksam, dass wir erst um 16 Uhr gebucht waren. Der Mann bat uns, zunächst neben dem Tor zu warten. Sollte noch Platz sein, sei es kein Problem, bereits die Fähre um 14.30 Uhr zu nehmen. An uns zogen etliche Wagen vorbei, die für diese Fähre gebucht waren. Nach einer Weile bekamen wir ein Zeichen. Wir konnten noch mit! Hocherfreut, etwas eher in England anzukommen und vor allem nicht auf einem öden Parkplatz in Dünkirchen die Zeit totschlagen zu müssen, gesellten wir uns dazu. Es ging alles so schnell, dass wir gar keine Zeit hatten zu realisieren, dass wir schon auf dem Weg nach England waren.

Die Überfahrt verlief ruhig. Auf Deck verspeisten wir in Ruhe den Rest unseres Picknicks. Der Himmel war grau, das Meer leuchtete grünlich mit ein paar Schaumkronen, hin und wieder fielen ein paar Tropfen. Zwei Stunden Überfahrt gingen schnell vorüber. Schon waren die weißen Felsen von Dover in Sicht – leider wenig eindrucksvoll vor grau verhangenem Himmel.

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Dover empfing uns mit dicken Regentropfen. Auf unserem Weg aus der Stadt hinaus passierten wir einen kilometerlangen Stau: eine Unmenge an LKWs und PKWs, die vermutlich alle auf ihrem Weg zur Fähre waren. Ergriff dort alles vor diesem „Hundewetter“ die Flucht?

Da wir bei unserem Bed and Breakfast (B&B) erst 90 Minuten später erwartet wurden, machten wir einen kleinen Schlenker an der Küste entlang. Der erwies sich allerdings als wenig lohnend: es gab kaum eine Gelegenheit, auf das Meer zu schauen und die kleinen Städtchen, die wir passierten, waren auch nicht sonderlich schön. So bogen wir dann bald ins Landesinnere ab und begaben uns in Richtung unseres B&Bs. Der Regen ließ nicht nach, es regnete, wie man in England so schön sagt „Katzen und Hunde“ .

Etwa eine Dreiviertelstunde früher als avisiert erreichten wir Barclays Farmhouse, das uns von unserer ersten Englandreise vor drei Jahren so gut in Erinnerung geblieben war. Im Regen sah die großzügige Kies-Auffahrt vorbei an dem hübschen Teich und dem säuberlich getrimmten Rasenflächen natürlich nur halb so schön aus. Zu unserer Enttäuschung öffnete zunächst niemand die Tür. Erst später stellte sich heraus, dass Lynn, die „Herbergsmutter“ unsere Ankunft und das Klingeln an der Tür gar nicht gehört hatte. Als sie uns bemerkte, hörte sie kaum auf, sich zu entschuldigen, auch für das schreckliche Wetter. Herzlich nahm sie uns auf, ganz so wie gute alte Bekannte. Sie wollte wissen, ob wir eine gute Reise hatten, bemitleidete uns für das frühe Aufstehen und fragte nach, wie es uns in den letzten Jahren ergangen sei. In unserem Zimmer warte ein kleiner Teekocher, im Kühlschrank stand Mineralwasser und natürlich ein Fläschchen frischer Milch für die englische „Cup of Tea“ – herrlich.

Zum Abendessen ging es in das uns schon von unserem letzten Aufenthalt bekannte County Pub, eine Mischung aus rustikalem Gasthaus und Kneipe The Three Chimneys. Das uralte, schiefe Häuschen mit tiefen Decken und alten Holzbalken war genauso, wie wir es damals verlassen hatten.

Anders als auf den ersten Blick zu vermuten, rührt der Name des Pubs nicht von den drei Schornsteinen, die sich auf seinem Dach befinden, sondern geht zurück auf die Zeit des Siebenjährigen Krieges (1756 – 1763). Damals wurden 3.000 französische Soldaten im nahegelegenen Sissinghurst gefangengehalten. Sie durften sich nur bis zu diesem Pub bewegen, das „The Three Wents“ (die drei Wege) genannt wurde. Aus dem Französischen „les trois chemins“ wurde später „The Three Chimneys“. Das Pub selbst ist viel älter. Es wurde um 1420 erbaut und war jahrhundertelang ein einfaches Alehouse. Obwohl erheblich vergrößert, hat es seinen Charakter bis heute bewahrt.

Auch dieses Mal haben wir wieder vorzüglich gespeist: Als Vorspeise mit Käse überbackene Schinken-Sandwiches und eine Hühnerleber-Pastete mit pikantem Chutney – rustikale Landhausküche. Als Hauptgericht wählten wir einen Salat mit Cajun-Hühnchen und Ente mit gebackenen Kartoffeln. Zum Nachtisch freuten wir uns über einen Pflaumen-Apfel-Crumble – ein typisch englischer Nachtisch aus dem Ofen. Das Obst wird mit einer dicken Schicht Streusel überbacken, so wie wir sie von unserem Streuselkuchen kennen. Dazu gab es Vanilleeis.

Müde fielen wir ins Bett und hofften sehr, dass es am folgenden Morgen aufhören würde, mit dem Regen …

Anreise über Dover

Nach unserem Start am frühen Samstagmorgen um fünf Uhr sind wir schon um 14 Uhr am Fährterminal in Dünkirchen angekommen. Die Autobahnen waren frei und ab Nordrhein-Westfalen ließ auch der teilweise recht starke Regen nach. An der Küste kam sogar blauer Himmel zum Vorschein und die Sonne ließ sich kurzfristig blicken. Bis zur Abfahrt der schon vor Monaten
gebuchten Fähre hatten wir viel Zeit. Man hatte uns aufgegeben, uns mindestens 45 Minuten eher einzufinden, in den Sommermonaten sogar 90 Minuten eher. Wir waren überrascht, dass schon so viele Fahrzeuge in Reihen auf Warteposition standen, mehrheitlich Engländer, ein paar Belgier und Niederländer, deutsche Autos konnte man an einer Hand abzählen.

Zoll und Passkontrolle hatten wir passiert (die britischen Grenzer wollten sogar kurz einen Blick in unseren Kofferraum werfen – wir vermuten, wegen der Flüchtlinge, die besonders vom benachbarten Calais aus als blinde Passagiere nach England zu gelangen versuchen). Wir packten unser mitgebrachtes Picknick aus, um uns die Wartezeit bis zur Abfertigung zu vertreiben. Kaum hatten wir die Gabeln zur Hand und machten uns mit Appetit über das verspätete Mittagessen her, kam Bewegung in die Schlange vor uns: die Autos starteten. Wir wollten bloss ein wenig aufrücken, da bewegten wir uns immer näher auf die wartende Fähre zu. Ein Mitarbeiter von DFDS-Seaways wank uns heran. Wir wunderten uns sehr und machten einen weiteren Mitarbeiter, der uns durch ein Tor auf die Fähre winken wollte, darauf aufmerksam, dass wir erst um 16 Uhr gebucht waren.

Der Mann bat uns, zunächst neben dem Tor zu warten. Sollte noch Platz sein, sei es kein Problem, bereits die Fähre um 14.30 Uhr zu nehmen. An uns zogen etliche Wagen vorbei, die für diese Fähre gebucht waren. Nach einer Weile bekamen wir ein Zeichen. Wir konnten noch mit! Hocherfreut, etwas eher in England anzukommen und vor allem nicht auf einem öden Parkplatz in Dünkirchen die Zeit totschlagen zu müssen, gesellten wir uns dazu. Es ging alles so schnell, dass wir gar keine Zeit hatten zu realisieren, dass wir schon auf dem Weg nach England waren.

Die Überfahrt verlief ruhig. Auf Deck verspeisten wir in Ruhe den Rest unseres Picknicks. Der Himmel war grau, das Meer leuchtete grünlich mit ein paar Schaumkronen, hin und wieder fielen ein paar Tropfen. Zwei Stunden Überfahrt gingen schnell vorüber. Schon waren die weißen Felsen von Dover in Sicht – leider wenig eindrucksvoll vor grau verhangenem Himmel.

Dover empfing uns mit dicken Regentropfen. Auf unserem Weg aus der Stadt hinaus passierten wir einen kilometerlangen Stau: eine Unmenge an LKWs und PKWs, die vermutlich alle auf ihrem Weg zur Fähre waren. Ergriff dort alles vor diesem „Hundewetter“ die Flucht?

Da wir bei unserem Bed and Breakfast (B&B) erst 90 Minuten später erwartet wurden, machten wir einen kleinen Schlenker an der Küste entlang. Der erwies sich allerdings als wenig lohnend: es gab kaum eine Gelegenheit, auf das Meer zu schauen und die kleinen Städtchen, die wir passierten, waren auch nicht sonderlich schön. So bogen wir dann bald ins Landesinnere ab und begaben uns in Richtung unseres B&Bs. Der Regen ließ nicht nach, es regnete, wie man in England so schön sagt „Katzen und Hunde“ .

Etwa eine Dreiviertelstunde früher als avisiert erreichten wir Barclays Farmhouse, das uns von unserer ersten Englandreise vor drei Jahren so
gut in Erinnerung geblieben war. Im Regen sah die großzügige Kies- Auffahrt vorbei an dem hübschen Teich und dem säuberlich getrimmten Rasenflächen natürlich nur halb so schön aus. Zu unserer Enttäuschung öffnete zunächst niemand die Tür. Erst später stellte sich heraus, dass Lynn,
die „Herbergsmutter“ unsere Ankunft und das Klingeln an der Tür gar nicht gehört hatte. Als sie uns bemerkte, hörte sie kaum auf, sich zu entschuldigen, auch für das schreckliche Wetter. Herzlich nahm sie uns auf, ganz so wie gute alte Bekannte. Sie wollte wissen, ob wir eine gute Reise hatten, bemitleidete uns für das frühe Aufstehen und fragte nach, wie es uns in den letzten Jahren ergangen sei. In unserem Zimmer warte ein kleiner Teekocher, im Kühlschrank stand Mineralwasser und natürlich ein Fläschchen frischer Milch für die englische „Cup of Tea“ – herrlich.

Zum Abendessen ging es in das uns schon von unserem letzten Aufenthalt bekannte County Pub, eine Mischung aus rustikalem Gasthaus und Kneipe, The Three Chimneys. Das uralte, schiefe Häuschen mit tiefen Decken und alten Holzbalken war genauso, wie wir es damals verlassen hatten.

Anders als auf den ersten Blick zu vermuten, rührt der Name des Pubs nicht von den drei Schornsteinen, die sich auf seinem Dach befinden, sondern geht zurück auf die Zeit des Siebenjährigen Krieges (1756 – 1763). Damals wurden 3.000 französische Soldaten im nahegelegenen Sissinghurst gefangengehalten. Sie durften sich nur bis zu diesem Pub bewegen, das „The Three Wents“ (die drei Wege) genannt wurde. Aus dem Französischen „les trois chemins“ wurde später „The Three Chimneys“.

Das Pub selbst ist viel älter. Es wurde um 1420 erbaut und war jahrhundertelang ein einfaches Alehouse. Obwohl erheblich vergrößert, hat es seinen Charakter bis heute bewahrt. Auch dieses Mal haben wir wieder vorzüglich gespeist: Als Vorspeise mit Käse überbackene Schinken-Sandwiches und eine Hühnerleber-Pastete mit pikantem Chutney – rustikale Landhausküche. Als Hauptgericht wählten wir einen Salat mit Cajun-Hühnchen und Ente mit gebackenen Kartoffeln. Zum Nachtisch freuten wir uns über einen Pflaumen-Apfel-Crumble – ein typisch englischer Nachtisch aus dem Ofen. Das Obst wird mit einer dicken Schicht Streusel überbacken, so wie wir sie von unserem Streuselkuchen kennen. Dazu gab es Vanilleeis.

Müde fielen wir ins Bett und hofften sehr, dass es am folgenden Morgen aufhören würde, mit dem Regen …