Ludlow, die Shropshire Hills und Coalbrooksdale

Beim Frühstück im Old Manor House entspann sich eine interessante Unterhaltung zum Thema Brexit mit anderen Gästen des B&B. Am Tisch: ein etwas älteres Dreiergespann. Zwei Damen und ein Mann, allesamt Engländer, wobei der Mann und seine Frau in Frankreich lebten, die andere Frau kam aus Kent. Außerdem ein deutsches Ehepaar aus der Nähe von Köln. Sie war Übersetzerin für Englisch und Französisch und arbeitete als Englischlehrerin. Die Engländer verbrachten gemeinsam einige Tage in der Gegend, unter anderem, um sich Theaterstücke in Stratford anzusehen. Sie schienen gut informiert und gebildet, vor allem der Mann besaß einen feinsinnigen Humor.

William servierte den warmen Teil des Frühstücks und versorgte uns mit Tee und Toast. Dabei lieferten sich die beiden Engländer regelrechte Wortgefechte voller Witz und Hintersinn. Shakespeare wurde zitiert und darüber nachgedacht, wie es wohl zu seiner Zeit zugegangen sei. Es war herrlich, der Konversation zu folgen. Alle bedauerten den Brexit. Es sei eine äußerst dumme Entscheidung. Das Ehepaar aus Frankreich dachte darüber nach, die französische Staatsbürgerschaft anzunehmen, um die vielen Ungewissheiten über ihren Aufenthaltsstatus und mögliche Beschwernisse beim Reisen zwischen England und Frankreich auszuschließen. Viele im Ausland lebende Engländer seien zu diesem Schritt gezwungen. Über die Premierministerin wurde geschimpft. Es sollte nicht das letzte Mal sein, dass Theresa May als „silly woman“ bezeichnet wurde. Ebenfalls kein gutes Haar ließ die Gesellschaft an ihrem Kontrahenten Jeremy Corbyn. Regierung wie Opposition warfen sie Planlosigkeit und Überforderung vor. Die Minister bekämpften sich gegenseitig und intrigierten obendrein noch gegen May. Ebenfalls gespalten sei die Opposition. Schottland und Wales stellten sich gegen London und Nordirland habe die Regierung nur gewonnen, indem sie gegenüber einer irischen Kleinstpartei Zugeständnisse gemacht habe. Die Wirtschaft, insbesondere die gewichtige Finanzwelt, ignoriere man. Es gab Stimmen, die zuversichtlich waren, dass der Brexit verkrustete Strukturen aufbrechen und eine neue Dynamik erzeugen könne. Insgesamt überwog jedoch die Skepzis. Parlament und Regierung würden über Jahre mit den Austrittsverhandlungen beschäftigt sein und damit, neue Bündnisse zu schmieden. Das werde Kapazitäten binden, die das Land brauche, um an anderen Stellen weiterzukommen.

Kopfschüttelnd beschlossen William und der Herr aus Frankreich ob der Tatsache, dass man an der festgefahrenen Situation kaum etwas ändern könne, sich auf das Frühstück zu konzentrieren. William fragte, ob noch mehr Toast gewünscht sei und regte er eine „comradship of toast“ an.

Schade, dass wir uns verabschieden mussten, weil die Straße rief. Anders als die Deutschen, die bei solchen Unterhaltungen zum Meckern und Mosern neigen, werden die Beschwernisse des Lebens in England stets mit einem Schuss Humor betrachtet. So ist man nie verbittert oder frustriert, wenn man weiterzieht.

Beim Abschied lernten wir Williams Frau Jane kennen, die morgens derart beschäftigt mit dem Zubereiten des Frühstücks gewesen war, dass wir sie noch gar nicht gesehen hatten. Das war schade, denn Jane war eine überaus sympathische und liebenswerte Frau. Sie freute sich aufrichtig über die lobenden Worte, die wir ihr für unseren Aufenthalt aussprachen. Angesprochen auf das historische Haus entfuhr ihr ein tiefer Seufzer. Ja, das 1550 (also zu Shakespeares Zeiten) erbaute Haus sei bemerkenswert, doch die Arbeit, die damit verbunden sei, enorm. Sie fühle sich zuweilen wie in einem Hamsterrad, denn es gebe stets irgendetwas zu tun. Und die langen grauen Winter in einem Gebäude mit kleinen Fenstern und tiefen Decken könnten ganz schön auf das Gemüt gehen. Zudem sei es schwer, das alte Gemäuer richtig warm zu bekommen. So herrlich der Anblick für Besucher sei, es stecke so viel dahinter, dass sie schon so manches Mal überlegt habe, das ganze aufzugeben.

Die dritte Etappe unserer Reise führte uns an Worcester vorbei über Ludlow, durch die Shorpshire Hills nach Coalbrooksdale. Übernachten wollten wir außerhalb von Burton-upon-Trent.

Mit dem Übertritt in die Grafschaft Warwickshire hatten wir den südlichen Teil der Midlands erreicht. Das Gebiet, das sich – wie der Name sagt – in der Mitte zwischen Süd- und Nordengland befindet, entspricht weitgehend dem einstigen Königreich Mercia.

Seit Beginn des 5. Jahrhunderts hatten germanische Stämme vom heutigen Niedersachsen und Schleswig-Holstein aus Britannien erobert. Sie kamen aus der Hügellandschaft zwischen der Flensburger Förde und der Schlei (Angeln), aus Sachsen und Jütland.

Die Angelsachsen gründeten kleine Königreiche. Unter König Offa (757-796) besass Mercia die Vormacht, wurde dann aber von Wessex abgelöst. Dessen König Egbert (802-839) unterwarf Mercia, Kent, Sussex, Essex, East Anglia und Northcumbria und vereinigte sie zu einem Gesamtstaat. In schweren Kämpfen verteidigte sich dieser gegen dänische und norwegische Wikinger. Gegen den Herzog der Normandie, Wilhelm den Eroberer, musste er sich jedoch 1066 geschlagen geben.

Einst als „Workshop of the World“ bezeichnet, ist die Deindustrialisierung in England weit vorangeschritten. Sie begann nach dem Zweiten Weltkrieg in der Textilindstrie und setzte sich in den 1970er und 1980er Jahren in der Schwerindustrie fort. Dennoch ist die Industrie auch heute noch für England bedeutsam und die Midlands sind ihr Herzstück. 2,3 Millionen Menschen arbeiten in diesem Wirtschaftszweig. Er erzeugt weit über die Hälfte der britischen Exporte.

Zu den wichtigsten Sektoren gehören die Automobilindustrie, Elektronik, Audio- und Optikgeräte, Nahrungsmittel, Getränke, Tabak, Papier, Druck, Verlage und Textilien.

Die Automobilindustrie, die mit klingenden Namen wie MG, Morgan, Aston Martin, Jaguar und Land Rover verbunden wird, beginnt sich nach schwierigen Jahren langsam zu erholen, auch wenn die großen Unternehmen mittlerweile in ausländischer Hand sind. Alle großen Marken sind mit Werken in Großbritannien vertreten: BMW, Ford, Honda, Nissan, PSA, Toyota und Volkswagen. Die überwiegende Zahl der Fahrzeuge wird exportiert, die Hälfte davon in die Länder der Europäischen Union.

Daneben werden Schienenfahrzeuge hergestellt, BAE Systems produziert gepanzerte Fahrzeuge, JCB landwirtschaftliche Maschinen und Industriefahrzeuge. Goodyear Dunlop und Michelin stellen Reifen in den Midlands her. Mit Rolls-Royce Aero Engines ist hier auch ein bedeutendes Luftfahrtunternehmen ansässig.

Zwei der größten Pharmaunternehmen der Welt – GlaxoSmithKline und AstraZeneca – haben ihren Hauptsitz in Großbritannien.

Bekannte Namen anderer Industriezweige sind Unilever, SABMiller, Cadbury Schweppes, British American Tabacco, Imperial Tabacco und Burberry.

Auch wenn Namen wie Wedgwood, Spode, Bridgewater und Hudson & Middelton weit über Englands Grenzen hinaus bekannt sind, spielt die ab dem 17. Jahrhundert so bedeutende Keramikindustrie heute keine herausragende Rolle mehr. Im „Pottery District“ Stoke-on-Trent ging die Zahl der Arbeitsplätze von 50.000 in den 1980er Jahren auf kaum mehr 9.000 zurück. Ein Lichtblick sind die vielen jungen Keramikgestalter, die sich in den letzten Jahren dort niedergelassen haben und die Tradition mit frischen, neuen Ideen – etwa unter Zuhilfenahme des 3-D-Druckers – wieder beleben.

Viele neue Unternehmen entstanden in Transport, Logistik, Metallverarbeitung und Umwelttechnologie. Weitere Arbeitsplätze konnten im Dienstleistungsbereich gewonnen werden. Die alten Industriezentren Manchester und Birmingham zählen heute wieder zu den wirtschaftsstärkten Regionen.

Dennoch bleibt Mittelengland hinter den südlichen Regionen zurück. Fast 230.000 Menschen haben keine Arbeit, die Arbeitslosenquote liegt mehr als ein Prozent über dem britischen Durchschnitt von 8 Prozent.

Die Region ist stark vom funktionierenden Export abhängig. Große internationale Konzerne wie Airbus, Coca Cola, Nestlé und Pfizer setzen mit ihren Produktionsstätten rund 100 Milliarden Dollar um und geben 200.000 Menschen Arbeit. Die Hälfte der britischen Exporte geht in EU-Länder. Umso paradoxer, dass sich die meisten Befürworter des Brexit in den Midlands finden.

Wie sich Mittelengland künftig entwickelt, wird von den Vereinbarungen abhängen, die den Austritt Großbritanniens aus der EU regeln. Ein harter Brexit könnte zu einem Rückzug internationaler Konzerne führen und damit tausende von Arbeitsplätzen vernichten.

Wir begaben uns auf die Autobahn Richtung Stratford und fuhren dann nördlich an Birmingham vorbei nach Ludlow.

Der knapp 10.000 Einwohner zählende Ort ist nicht nur bekannt für seine schönen schwarz-weißen Fachwerkhäuser aus gregorianischer Zeit, sondern auch für seine Gastronomie: bis vor einiger Zeit gab es dort drei Restaurants mit Michelin-Stern. In den Einkaufsstraßen findet man so manches Lebensmittelgeschäft, das man in so einer kleinen Stadt nicht vermuten würde, etwa einen Käseladen, der ausschließlich englische Käsesorten im Angebot hat oder einen Fischladen, in dem man frischen Hummer und Austern bekommt.

Die Stadt wurde von Walter de Larcy, einem normannischen Adligen gegründet. Für seine Teilnahme an der Schlacht von Hastings bekam er 1066 vom Wilhelm dem Eroberer Ländereien an der Grenze zu Wales zugesprochen. Am Fluss Teme baute er eine Burg. 1177 soll die Stadt über 1.000 Einwohner gehabt haben. Zu dieser Zeit gab es bereits das Rose and Crown Inn, das man über einen mit Kopfstein gepflasterten Innenhof erreicht. Mit seiner über 600jährigen Geschichte gehört es zu den ältesten Gastwirtschaften in England.

Wir folgten der Empfehlung des Reiseführers und machten einige Kilometer weiter in Church Stretton halt. Im viktorianischen England war die kleine Stadt Kurort und wurde wegen der sie umgebenden Landschaft als „little Switzerland“ bezeichnet. Heute ist die geschäftige kaum 5.000 Einwohner zählende Marktstadt einer der Hauptorte in den Shorpshire Hills. Die Gegend wurde 1958 zur Area of Outstanding Natural Beauty erklärt. Erstaunlich, dass sie vom Tourismus bis heute relativ unentdeckt blieb.

In dem winzigen Feinkostladen Van Doesburg´s ließen wir uns Sandwiches belegen und kauften Quiche und Pasteten ein. Wir wollten abends auf ein erneutes Essen in einem Pub verzichten und stattdessen ein Picknick machen. Die Zeitung The Guardian hatte die Sandwiches 2005 mit fünf Sternen bewertet und schwärmte: „Done well, even the simplest food can brighten up your day“. Eine kleine Aufhellung konnten wir gut gebrauchen: Immer wieder waren Regenschauer niedergegangen und am Himmel dominierte die Farbe grau.

Auf einer reizvollen Strecke durch die Shropshire Hills – grüne Hügel, die durch ihre Rundungen wie überdimensionale Maulwurfshügel aussahen und die durch frühere Vulkantätigkeit entstanden waren – gelangten wir nach Coalbrooksdale. Obwohl überwiegend ländlich geprägt, ist Shropshire die Wiege der industriellen Revolution.

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In Coalbrooksdale begannen im 16. Jahrhundert der Kohlebergbau und die Eisenverhüttung. 1708 pachtete der Fabrikant Abraham Darby das Hüttenwerk. Darby hatte in den 1690er Jahren in Birmingham eine Lehre bei einem Hersteller für Walzwerke zum Schroten von Malz absolviert. 1699 zog er nach Bristol, wo er zunächst selbst Schrotmühlen herstellte.

Zusammen mit anderen Quäkern gründete er 1702 eine Messingwarenfabrik. Er produzierte Kochtöpfe und andere Hohlwaren. Darby entwickelte das Sandguss-Verfahren weiter, das bis dahin nur für Kleinteile verwendet worden war. Die neue Methode ermöglichte es, dünnwandigere Töpfe herzustellen als durch das Gießen in traditionelle Lehmformen. Darby wandte das Verfahren auch mit Eisen an. Seine Nachfolger verkauften Töpfe in ganz England und Wales und besaßen hierfür praktisch ein Monopol.

Darby richtete seine Aufmerksamkeit auf die Produktion von Eisen und pachtete das Hüttenwerk in Coalbrooksdale. Um das Eisenerz zu schmelzen, nutze er erstmals Koks. Das neue Verfahren machte die Konstruktion neuer Hochöfen notwendig. Darby schuf damit die Voraussetzung für die industrielle Massenfertigung von Roheisen.

Auch die folgenden beiden Generationen entwickelten das Hüttenwesen und die Eisenveredelung weiter. Darbys Enkel, Abraham Darby III, übernahm das Werk seines Großvaters mit 19 Jahren. Unweit von Coalbrooksdale baute er 1779 eine Brücke über den Fluss. Bis dahin waren zur Querung des Severn Fähren genutzt worden. Die Eisenindustrie wuchs jedoch so stark, dass ein schnellerer Weg erforderlich war. Der Architekt Thomas Pritchard, der sich vornehmlich einen Namen mit dem Bau von Kirchen gemacht hatte, entwarf eine Eisenbrücke. Dabei übertrug er die Methoden des Holzbrückenbaus. In leicht modifizierter Form wurden die gusseisernen Einzelteile zwischen 1777 und 1779 in den Eisenhütten in Coalbrookdale hergestellt. Den Auftrag erhielt Abraham Darby. Die Baukosten von 3.200 Pfund wurden durch die Ausgabe von Aktien finanziert. Für etwaige Zusatzkosten sollte Darby aufkommen. Weil statt der vorausberechneten 300 Tonnen 378 Tonnen Eisen benötigt wurden, kam diese Vertragsklausel Darby teuer zu stehen: Fast 3.000 Pfund musste er aus eigener Tasche zahlen.

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Thomas Pritchard hat die Eröffnung der 30 Meter langen Brücke am Neujahrstag 1781 nicht mehr erlebt. Er starb 1777 mit nur 54 Jahren.

Die Iron Bridge gab sowohl der Ortschaft als auch dem Tal den Namen: Um die Brücke bekannt zu machen, wurde „Severn Gorge“ umbenannt in Ironbridge Gorge. Das Bauwerk war im 18. Jahrhundert die Attraktion schlechthin. Sie lockte Menschen aus dem ganzen Land an.

Zur Erinnerung benannte der Rosenzüchter David Austin 1985 eine Rosensorte nach Abraham Darby. Austins Rosenschule liegt nur wenige Kilometer von der Ironbridge entfernt.

Heute gehört Iron Bridge Gorge zum UNESCO-Welterbe. In dem etwa sieben Kilometer langen Tal kann man eine ganze Reihe von Museen besuchen: Das Eisenmuseum liegt in einer ehemaligen Eisengießerei in Coalbrooksdale, in der bis zu 4.000 Männer und Kinder arbeiteten. Am Fluss lassen sich die Reste eines Hochofens bestaunen. Der Ofen wurde rund um die Uhr mit Koks befeuert. Nachts soll seine glühende Silhouette Passanten verängstig haben. „Bedlams“ nannte man im Mittelalter Irrenanstalten. In Anlehnung an die Redeweise „to scare out of one´s wits“ (vor Angst den Verstand verlieren) erhielt der Hochofen den Namen „Bedlam Furnance“.

Außerdem kann man sich die Rekonstruktion einer viktorianischer Stadt anschauen, einen historischen Porzellanbetieb, eine Tonpfeifenfabrik und eine Ausstellung dekorativer Keramikfliesen.

Kaum vorstellbar ist, dass dieses so romantisch gelegene Flusstal einst ein Industriegebiet mit schmauchenden Schloten war, in dem die Menschen wegen der harten Arbeitsbedingungen und der Luftverschmutzung sicherlich nicht sehr alt geworden sind.

Nach dem Zweiten Weltkrieg verlor Großbritannien seine Führungsrolle in der Schwerindustrie. Hatte die Stahlproduktion während des Krieges noch bei 20 Millionen Tonnen gelegen, war sie 1967 auf 50.000 Tonnen abgesunken. Veraltete Produktionsmethoden, ein Investitionsstau und ein Überangebot auf dem Weltmarkt führten in den 1970er Jahren zu Absatzschwierigkeiten, denen Rationalisierungsmaßnahmen folgten. In Liverpool kam der Schiffbau fast völlig zum Erliegen, die Produktion von Automobilen wurde wegen steigender Importe gedrosselt.

Der Niedergang in den Schlüsselindustrien, die Elektrifizierung der Eisenbahn und die steigende Förderung von Öl in der Nordsee führten zu einem dramatischen Nachfragerückgang bei der Kohle. In den 1980er Jahren trieb Margaret Thatcher die Schließung eines Großteils der Bergwerke voran. Die letzte sich noch im Betrieb befindliche Zeche in North Yorkshire stellte ihre Arbeit 2015 ein. Heute wird Kohle nur noch im Tagebau gefördert. Nach Polen ist Großbritannien allerdings weiterhin zweitgrößter Steinkohleproduzent in der EU.

Just als wir an der sehenswerten Brücke angelangt waren, kam die Sonne heraus – zuvor war der Himmel die ganze Zeit verhangen gewesen und es hatte fast durchgehend genieselt. Schnell erwärmte sich die Luft von 15 auf 20 Grad. Wir machten es uns auf einer Bank gemütlich und verspeisten die frisch nach unseren Wünschen belegten Sandwiches mit Blick auf das historische Monument.

Der Weg zum Bed und Breakfast war weniger attraktiv. Er führte uns um Birmingham herum geradewegs in Gewerbegebiete. Ein Kreisverkehr folgte dem nächsten. Es waren große Kreisverkehre, teilweise mit Ampeln, in denen jede Menge LKWs unterwegs waren. Burton-upon-Trend entpuppte sich als wenig schöner Ausläufer des Industriestandortes Birmingham.

Fast 75.000 Menschen leben in der für ihre Brauerein bekannten Stadt. Um 1000 gründeten Mönche das Kloster Burton Abbey. Sie stellten fest, dass das Wasser sich besonders gut zum Bierbrauen eignete. So entstanden im Laufe der Jahrhunderte etliche Brauereien. Als Nebenprodukte werden Marmite, ein Brotaufstrich aus Bierhefe und Bovirl, ein gesalzenes Hefeextrakt hergestellt.

Auf dem Fluss Trent ist Burton bis zum Nordseehafen Hull schiffbar. Im 18. Jahrhundert wurde das Bier auf Kähnen verschifft und bis ins Baltikum exportiert. Der 1777 fertiggestellte Trent-und-Mersey-Kanal verband die Stadt mit Liverpool. Ab den 1830er Jahren konnten die von Pferden getreidelten Binnenschiffe durch die Eisenbahn ersetzt werden. Die Anbindung zu den beiden Häfen ermöglichte es, das gesamte Britische Empire mit Bier aus Burton-upon-Trend zu versorgen.

Zusammenschlüsse und Verkäufe haben die Zahl der Brauereien schrumpfen lassen. Von den 30 Herstellern im Jahre 1880 sind heute noch acht übriggeblieben.

Wir fuhren durch weniger vertrauenswürdige, etwas heruntergekommene Viertel. Mit Blick auf das Navi wurden wir etwas nervös: nur noch wenige Kilometer trennten und von unserer nächsten Unterkunft, dem Westmorland Cottage, wo die Gastgeber Tim und Caroline uns schon erwarteten. Nur noch wenige Kilometer angesichts dieser Tristesse, die draußen herrschte?! Die einzigen Farbtupfer waren die traditionellen Gewänder pakistanischer Frauen, die auf den schmalen Gehwegen vor hässlichen, heruntergekommenen Reihenhäusern liefen.

Wir bogen rechts in eine Straße ab. Das Bild wandelte sich: erst kleinere Einzelhäuser, dann größere mit Gärten. Umso weiter wir der Straße folgten, desto wohlhabender wurde die Gegend. Schließlich säumten rechts und links regelrechte Villen die Straßen. Wir waren in Rolleston-on-Dove angekommen, einer Ortschaft außerhalb von Burton-upon-Trend.

Das Navigationsgerät teilte mit, das Ziel sei erreicht. Wir wunderten uns, denn wir befanden uns vor einem geöffneten Tor, hinter dem sich wohl ein Privatgrundstück erstreckte. Ein Hinweis auf ein Bed and Breakfast oder die gesuchte Adresse fehlte. Wir wagten nicht, einfach hineinzufahren. Ich rief die „Herbergseltern“ an. Tim lotste uns durch das Tor, hinter dem sich eine Privatstraße auftat: die Zufahrtsstraße zu diversen größeren Anwesen, darunter auch das gesuchte Westmorland Cottage. Erst später sollten wir erfahren, dass das kleine Häuschen rechts neben dem Eingangstor früher einmal das Portiershaus von Rolleston Hall, dem Familiensitz der Mosleys war. Das Anwesen wurde 1923 verkauft, das Landhaus aus dem 17. Jahrhundert abgerissen, auf dem Gelände entstanden diverse Wohnhäuser. Sir Oswald Mosley (1896 – 1980), der Begründer der British Union of Fascists, hatte hier seine Jugend verbracht. Nach dem Tod seiner ersten Frau heiratete Mosley seine Geliebte Diana Guiness, eine Schwester von Unity Mitford. Mitford war eine glühende Verehrerin von Adolf Hitler. Sie bewegte sich in dessen innerstem Führungskreis. Oswald und Diana wurden 1936 im Haus von Josef Goebbels getraut, unter den Gästen war auch Hitler. 1940 internierten die Briten das Ehepaar und verboten die British Union of Fascists. Versuche Mosleys, nach dem Krieg in die Politik zurückzukehren, scheiterten am geringen Zuspruch. Ende der 1960er Jahre zog sich Mosley aus der Politik zurück. Er starb 1980 in Frankreich. Einer seiner schärfsten Kritiker war sein Sohn aus erster Ehe, der Schriftsteller Nicholas Mosley. Anfang der 1980er Jahre verfasste er eine zweibändige Biographie über das Leben seines Vaters.

Tim und Caroline begrüßten uns herzlich und luden uns auf eine Tasse Tee ein. Unser geräumiges Zimmer lag separat über einer Doppelgarage. Die Aufmachung erinnerte an ein Kutscherhaus. Eine Treppe führte außen hinauf in den ersten Stock unter das Dach, wo wir einen großen, äußerst geschmackvoll und mit hochwertigen Mobiliar eingerichteten Raum mit einem sehr schönen Bad vorfanden. Alles war ganz neu und farblich sorgsam aufeinander abgestimmt. Die Gastgeber erzählten uns, dass Tims Pensionierung sie dazu bewogen habe, ein Bed and Breakfast einzurichten. Die Kinder seien aus dem Haus, man habe Platz und Zeit und in der unmittelbaren Umgebung gebe es gar keine B&Bs. Dass dieses Paar das Zimmer nicht anbot, weil es Geld für den Unterhalt eines historischen Hauses oder gar als Zubrot benötigte, merkte man den beiden an. Sie schienen tatsächlich Freude daran zu haben, Menschen aus aller Welt bei sich aufzunehmen. Nach unserer Reiseroute gefragt, löste der Lake District wie immer wahre Begeisterungsstürme aus: „Oh, it´s so nice, you are so lucky, you will love it“. Es ist bemerkenswert, wie sehr die Engländer mit ihrem Land verbunden sind. Wir vermuteten schon, es sei die britische Art, jedes unserer Ziele als bemerkenswert schön hervorzuheben. Abends bei einem Besuch des örtlichen Pubs (wir sind inzwischen schon so akklimatisiert, dass wir dort auf einen Drink hingehen …) witzelten wir, dass man dieser Frage einmal nachgehen müsste, indem man eine äußerst häßliche Stadt als Ziel nennt. Ob die Gesprächspartner dann wohl auch aus purer Höflichkeit ins Schwärmen geraten?

Stratford-upon-Avon, Warwick und Baddesley Clinton

Beim reichhaltigen Frühstück mit Bacon, Spiegelei, gebratenen Pilzen und einer überbackenen Tomate schmiedeten wir Pläne für den Tag. Ein Bummel durch Shakespeares Geburtsstadt Stratford war gesetzt, meine restliche Planung verwarfen wir. Ich hatte für den Nachmittag eine Rundtour durch das Val of Evesham, entlang des Fluss Severn vorbei an Obstplantagen, vorgesehen und einen Besuch des alten Kurorts Cheltenham. Doch das hätte bedeutet, dass wir überwiegend im Auto gesessen hätten. Stattdessen nahmen wir uns einen Rundgang durch das Städtchen Warwick vor, das nur 12 km von Stratford entfernt liegt.

Ich hatte Stratford-upon-Avon vor rund 30 Jahren als Schülerin besucht. Jetzt enttäuschte es mich etwas. Vielleicht hat sich der Ort sehr verändert oder ich habe ihn in meiner Erinnerung romantisiert. In den breiten Fußgängerzonen überwogen Billig-Ketten. Die historischen Stätten dazwischen wirkten fast ein wenig verloren.

Als wir ankamen, bevölkerten noch nicht sehr viele Touristen die Stadt. Reiseführer warnen davor, das 24.000 Einwohner zählende Städtchen während der Hochsaison aufzusuchen und auch unser „Herbergsvater“ hatte geraten, möglichst frühzeitig dorthin aufzubrechen. Wir waren überrascht, dass um zehn Uhr morgens noch nicht so viel Trubel herrschte, wie vorausgesagt. Die Museen – das Geburtshaus von Shakespeare und weitere mit dem Dichter mittelbar oder unmittelbar in Verbindung zu bringende Attraktionen – öffneten bereits um neun Uhr.

Vor dem „Shakespeare Center“, dem um einen klotzigen Neubau erweiterten Geburtshaus, sammelte sich lediglich eine Reisegruppe mit Japanern, ansonsten waren keine nennenswerten Touristenströme in Sicht. Auch einen Parkplatz hatten wir relativ einfach gefunden.

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„Shakespeares Birthplace“, das langgezogene Fachwerkhaus in der Henley Street, sind eigentlich zwei Häuser. In einem wohnte die Familie, in dem anderen hatte Shakespeares Vater John sein Handschuh-Geschäft und seine Werkstatt. John war ein angesehener Bürger der Stadt, die damals etwa 800 Einwohner zählte.

Wir liefen die vom Reiseführer ausgewiesenen Stätten ab, wozu auch Harvard House gehört. Es wurde 1596 von Thomas Rogers erbaut. Rogers war ein erfolgreicher Metzger, Mais- und Viehhändler und diente neben John Shakespeare der Stratford Corporation als Alderman. 1607 wurde sein Enkel John Harvard geboren, mit dessen Vermögen später die berühmte amerikanische Elite-Universität begründet werden sollte.

Der wohlhabende Geistliche war mit seiner Frau Anne nach Massachusetts ausgewandert. Als er 1638 an Tuberkulose starb, vermachte er sein Vermögen einem Fonds zur Gründung einer neuen Hochschule, zusammen mit seiner über 230 Bücher zählenden Bibliothek. In Anerkennung seiner Großzügigkeit benannte sich Newetowne, der Ort, in dem er lebte, um und zwar nach der Stadt in England, in der John studiert hatte: Cambridge. Die Hochschule erhielt seinen Nachnamen. Einige Jahre später konnte mit dem Vermächtnis von Lady Mowlson Radcliffe ein Stipendienfond für bedürftige Studenten eingerichtet werden. Harvard College und Radcliffe College gehören zu den ältesten Colleges in den USA. Die Universität war zunächst streng religiös ausrichtet. Weitere Lehrangebote entwickelten sich erst 100 Jahre später.

1909 kaufte der Amerikaner Edward Morris das Haus von Johns Großvater in Stratford-upon-Avon. Nach seiner Restaurierung wurde es der Harvard University übergeben und ist seither als „Harvard House“ bekannt. Die Verwaltung der Immobilie hat Shakespeares Birthplace Trust übernommen. Für die Öffentlichkeit ist sie nur zu besonderen Anlässen zugänglich.

Dass Hall´s Croft und Nash´s House ebenfalls zu den wichtigen Sehenswürdigkeiten gezählt wurden, ließ uns schmunzeln: das erste war das Haus von Shakespeares Schwester Suzanna und deren Mann John Hall, das zweite gehörte dem Ehemann von Shakespeares Enkelin. Wurde hier alles zur Sehenswürdigkeit stilisiert, das irgendwie mit Shakespeare in Verbindung zu bringen war? Sicherlich, es handelte sich um historische Häuser, doch meinten wir auf einen regelrechten Shakespeare-Kult zu treffen, der ein wenig enervierend war.

In Hall´s Croft kann man eine Ausstellung über die Medizin im 17. Jahrhundert sehen. John Hall war ein bekannter Arzt. Nach seinem Tode erschien ein Buch über seine Behandlungsmethoden, das viele Jahre lang anderen Ärzten als Lehrbuch diente. Während seine Kollegen auf Astronomie und Aderlass schworen, behandelte Hall seine Patienten mit Heilpflanzen und Edelsteinen.

Nash´s House ist nach dem ersten Ehemann von Shakespeares Enkelin Thomas Nash benannt. Direkt daneben befindet sich New Place, ein Ausstellungszentrum, das sich auf dem Fundament des Stadthauses befindet, in dem Shakespeare seinen Ruhestand verbrachte. In dem repräsentativen Haus aus dem Jahre 1483 soll der Dichter einige seiner späten Werke geschrieben haben, darunter „The Tempest“. Zu Shakespeares Zeiten war New Place das zweitgrößte Haus in Stratford. Einer der späteren Besitzer riss es 1759 ab, angeblich, weil er sich von dem ständigen Strom von Shakespeare-Verehrern gestört fühlte.

Mit dem erst im vergangenen Jahr neu eröffneten Zentrum will der Shakespeares Birthplace Trust den Geist des Dichters für die Besucher zum Leben erwecken: die Werke zeitgenössischer Künstler, verschiedene Ausstellungsstücke und die Rekonstruktion des Gartens sollen dabei helfen, sich in die Zeit zu versetzen und sich Shakespeare ganz nahe zu fühlen.

Aus Sicht der Tourismusförderung ist der Kult, der um den Dichter betrieben wird, verständlich: Schon seit dem18. Jahrhundert, als ein Schauspieler auf die Idee kam, in Stratford ein Shakespeare-Festival ins Leben zu rufen, strömen die Besucher in die kleine Stadt am Avon. Heute ist der Tourismus die größte Einnahmequelle. Jährlich kommen zwei Millionen Besucher, um dem wohl berühmtesten Engländer ihre Reverenz zu erweisen.

Die Eintrittspreise sind happig: Das Geburtshaus lässt sich nur besichtigen, wenn man einen „House Pass“ für 26 Pfund kauft. Mit ihm kann man weitere in der Stadt verteilte Sehenswürdigkeiten besuchen. Vorab im Internet erworben, lässt sich eine Preisreduktion erzielen: Das Britische Fremdenverkehrsamt bietet einen Pass an, der den Besuch des Geburtshauses und zweier weiterer Häuser erlaubt. Für 21 Euro kann man so auch ein Blick in Anne Hathaway’s Cottage und Mary Arden’s Farm außerhalb von Stratford werfen. Anne Hathaway´s Cottage ist das Geburtshaus von Shakespeares Frau, Mary Arden´s Farm der Bauernhof, auf dem die Mutter des Dichters aufwuchs.

Hat Shakespeare wirklich gelebt? Zweifel daran gibt es schon lange. Fast 4.000 Personen haben die „Declaration of Reasonable Doubt“ unterzeichnet, die die „Shakespeare Authorship Coalition“, eine in Kalifornien ansässige Vereinigung, ins Internet gestellt hat. Die Wissenschaftler sind nicht allein. Auch Mark Twain und Sigmund Freud, Charlie Chaplin und Henry James waren sich sicher, dass es sich bei „William Shakespeare“ um ein Pseudonym handelte, hinter dem möglicherweise sogar ein ganzes Kollektiv von Autoren steckte.

Tatsächlich bleibt vieles in Shakespeares Leben vage, so sehr sich Stratford-on-Avon auch müht, jedes Steinchen zu bewahren, das eine Verbindung zu dem berühmten Sohn der Stadt aufweisen könnte. Die Frankfurter Allgemeine Zeitung hat sich anlässlich des 450. Geburtstages des Dichters in einem lesenswerten Artikel mit diesen Zweifeln beschäftigt.

Wer sich lieber auf Shakespeares Werke konzentriert, dem sei die Royal Shakespeare Company empfohlen. Das Theater hat einen ausgezeichneten Ruf, der Besuch einer Vorstellung ist in jedem Fall ein Erlebnis.

Während eines Ferienaufenthaltes vor vielen Jahren hatte meine Gastmutter Karten für eine Aufführung von „Romeo und Julia“ organisiert. Sie legte Wert darauf, dass ihre beiden Mädchen und ich uns mit dem Werk des berühmten Dichters auseinandersetzen. Dass sie Romeo und Julia wählte, war eine kluge Entscheidung. Weil uns Pubertierende die Handlung interessierte, waren wir bereit, uns auf die Sprache einzulassen. Auch für Muttersprachler ist das nicht ganz einfach. Doch die Schauspieler wissen zu fesseln und auch die Atmosphäre in dem eigens für die Aufführungen von Shakespeare-Stücken in den 1930er Jahren errichteten Theater ist eine ganz besondere. Umso bedauerlicher, dass es gut 30 Jahre später just an dem Tag, an dem wir in Stratford waren, keine Vorstellung gab.

Sehr gut gefallen hat uns ein kleiner Spaziergang am Avon entlang, dem Fluss, an dem Stratford liegt. Malerische Ausflugs- und Ruderboote und gepflegte englische Rasenflächen bis hinunter ans Wasser machten das ganze zu einem Augenschmaus.

Auch das Hafenbecken mit der Schleusenanlage war sehr schön. Sie verbindet den Avon mit dem Birmingham-Stratford-Kanal. Die rund 40 km wurden zwischen 1793 und 1816 erbaut. Bis zur Verbreitung der Eisenbahn diente die Wasserstraße vor allem dem Handel. Danach geriet sie weitgehend in Vergessenheit. 1956 gründeten Freiwillige die Stratford upon Avon Canal Society, um den Kanal zwischen Lapworth und Stratford wieder schiffbar zu machen. 1964 eröffnete die Königin Mutter den Abschnitt an der Schleuse in Stratford, eine von insgesamt 56 Schleusen. Später kam die Strecke bis nach Kings Norton hinzu. Heute nutzen vor allem Freizeitkapitäne und Angler den Kanal. An seinen Ufern sind Radfahrer und Wanderer unterwegs.

Nach kaum zwei Stunden verließen wir Stratford wieder und fuhren weiter nach Warwick. William hatte den Besuch des Städtchens beim Frühstück empfohlen.

Zur Besichtigung der imposanten Burg riet er eher verhalten. Sie wird von der Firma Madame Tussaud – dem berühmten Wachsfigurenkabinett in London – geführt. Sie hat Warwick Castle in einen mittelalterlichen Themenpark verwandelt mit entsprechend hohen Eintrittsgeldern. Wir nahmen Abstand von einem Besuch und ließen uns stattdessen von einer überaus freundlichen Dame in der Tourismuszentrale Punkte empfehlen, von denen man die Burg gut sehen und photographieren konnte.

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1086 errichtet, diente das Bauwerk als Bollwerk gegen dänische Invasoren. Der letzte Besitzer zog 1978 aus. Seither wird es landesweit als „größtes mittelalterliches Erlebnis“ vermarktet und zieht vor allem Familien mit Kindern an. Angesichts der hohen Kosten, die für den Erhalt eines solchen Gebäudes anfallen, sicherlich nicht die schlechteste Lösung.

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Im Städtchen Warwick gab es neben ein paar alten Stadttoren auch ein Gildehaus aus dem späten 14. Jahrhundert zu sehen, in dem der Earl of Leicester 1571 ein Heim für alte Soldaten einrichtete. Bis heute soll das sogenannte Lord Leicester Hospital, das trotz des Namens nichts mit einer medizinischen Einrichtung zu tun hat, diesem Zweck dienen.

Nach einer Pause vor der 1670 gebauten Markthalle, wo wir eine ganze Weile die Sonnenstrahlen genossen, entschieden wir uns, den Nachmittag dem 12 km entfernten Baddesley Clinton, einem Herrensitz des späten Mittelalters, zu widmen. Es gibt in der näheren und weiteren Umgebung eine beträchtliche Anzahl von Sehenswürdigkeiten, neben anderen Schlössern und Landsitzen auch die Stadt Coventry, die durch die Bombardierung im November 1940 traurige Berühmtheit erlangte als die deutsche Wehrmacht sie in Schutt und Asche legte. Auch Royal Leamington Spa, ein weiterer Kurort aus viktorianischer Zeit, wäre sicherlich auch einen Besuch wert gewesen.

Baddesley Clinton erreicht man über eine schmale, von Bäumen gesäumte Straße. Vom Eingangstor wand sie sich einen guten Kilometer durch Wiesen, auf denen Schafe grasten. Nach dem anstrengenden Tag im Auto und den vielen Eindrücken, die in den ersten Tagen bereits auf uns eingeprasselt waren, war diese ländliche Idylle eine regelrechte Wohltat.

Da das Anwesen zum National Trust gehört, hatten wir freien Eintritt. Das mit einem Wassergraben umgebene Haus wurde Anfang der 1400er Jahre erbaut und seit 1699 kaum verändert. Zwölf Generationen lang wurde es vom Vater an den Sohn weitergeben, auch in schwierigen Zeiten.

Am Eingang begrüßte uns wieder ein rüstiger Rentner aus dem schier unendlichen „Freiwillingen-Korps“ des National Trust. Er nahm sich Zeit, erläuterte jedem Gast ausführlich anhand des ausgehändigten Plans die Örtlichkeiten und machte das eine oder andere Spässchen. „Willkommen“, sagte der Mann als wir an der Reihe waren. Auf unserem National Trust-Pass war unsere Nationalität vermerkt. Wir waren überrascht, dass er Deutsch sprach, er musste jedoch einräumen, dass die Begrüßung bereits sein ganzer deutscher Sprachschatz war. Er habe Glück, dass ich ihn nicht mit einem Wortschwall Deutsch geantwortet hätte, scherzte ich. Er bedauerte die Faulheit der Engländer, was das Erlernen von Fremdsprachen angehe. Wir würden auch bloß vorgeben, Englisch zu beherrschen, trösteten wir den Mann, worauf er, höflich wie er war, unser Englisch lobte. Es sei harte Arbeit gewesen versicherten wir ihm.

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Seinen Namen hat Baddesley Clinton von dem Angelsachsen Baeddi, der das Grundstück im Wald von Arden rodete und der Familie Clinton, die im 13. Jahrhundert den Wassergraben aushob. 1438 kaufte es der Anwalt John Brome, der dort einen Teil des Anwesens aus Sandstein erbaute. Über seine Enkelin gelangte das Haus in den Besitz der Familie Ferrer. Ein Großteil des Herrenhauses wurde 1526 von Edward Ferrer erbaut. Sein Nachfolger Henry Ferrer errichtete zwischen 1564 und 1633 den großen Saal und den Garten. Auch ein Teil der Glasfenster stammt aus dieser Zeit.

Henry vermietete 1590 das Haus an zwei katholische Nonnen. Die Familie war auch in schwierigen Zeiten stets dem katholischen Glauben treu geblieben. Damals drohte dem protestantischen England eine Invasion der papsttreuen Spanier. Die katholische Kirche galt als subversiv, Jesuiten wurden mit dem Tode bestraft. Die Ferrers nahmen Priester auf und riskierten damit ihr Leben.

Die Guides des National Trust zeigten uns das Versteck, das sich im Toilettenschacht befindet. Es war möglich, an einem Seil aus dem ersten Stock in den stillgelegten Schacht zu gelangen, in dem etwa zwölf Geistliche Platz fanden. Das Versteck soll von einem Laienbruder gebaut und mindestens ein Mal genutzt worden sein. Während die Schutzsuchenden überlebten, wurde der Erbauer an einem anderen Ort von der Regierung gefangengenommen und zu Tode gefoltert.

Ein Blutfleck vor dem Kamin der Bibliothek wurde lange Zeit mit dem Mord an einem Priester verbunden. Historisch habe sich diese Geschichte aber als falsch erwiesen, erläuterte uns ein gesprächiger älterer Herr, der die Bibliothek beaufsichtigte. Dieser Teil des Hauses sei erst nach dem Mord errichtet worden. Jemand habe sich wohl einen Spaß erlaubt und vor dem Kamin Tierblut verschüttet, um die Hausherrin zu erschrecken.

Es sind dieses unglaubliche Detailwissen der Freiwilligen und ihr leichter und humorvolle Umgang mit der Geschichte, die beim Besuch der vom National Trust verwalteten Anwesen immer wieder Freude machen.

Seit dem Ende des 17. Jahrhunderts erschwerten Geldsorgen den Unterhalt von Baddesley Clinton. Erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts verbesserte sich die Lage. Marmion Ferrer heiratete Rebecca Orpen. Deren Tante Lady Georgina Chatterton und ihr zweiter Ehemann Edward Dering zogen auf das Anwesen. Alle vier widmeten sich der Wiederherstellung des Hauses. Lady Chatterton war eine erfolgreiche Autorin. Schon 1837 hatte sie anonym zwei Märchenbände veröffentlicht. Die erste Auflage ihrer „Rambles in the South of Ireland“, ein Reisebericht über Irland, war nach wenigen Wochen ausverkauft. Es folgten weitere Reiseberichte, Romane, Geschichten und Gedichte. Chatterton starb 1876 auf Baddesley Clinton im Alter von 69 Jahren.

1940 wurde das Haus von einem entfernten Cousin erworben. Thomas Walker und seine Frau Undine restaurierten es mit der Absicht, es dem National Trust zu übergeben. Ihrem Sohn Thomas Ferrer-Walker, der bis 1970 dort lebte, gelang es schließlich, die für die Fertigstellung fehlenden Mittel aufzubringen. Seit 1980 ist Baddesley Clinton im Besitz des National Trust, zwei Jahre später wurde es der Öffentlichkeit zugänglich gemacht.

Eine ganze Weile verbrachten wir im Museumscafé in der Sonne, wanderten durch den liebevoll gepflegten Gemüse- und Blumengarten und freuten uns über das überraschend gute Wetter. Eigentlich waren Schauer angesagt. Die blieben glücklicherweise aus und mit 19 Grad war es recht angenehm. Bei 28 Grad im Schatten wäre unser Besuchsprogramm kaum so leicht zu bewältigen gewesen.

Wie auf vielen anderen Anwesen konnte man auch hier im museumseigenen Shop Pflanzen für den heimischen Garten kaufen. Eine schöne Idee, die die sehr geschmackvolle Auswahl an Büchern und Souvenirs angenehm ergänzte.

Abends entschieden wir uns für ein Essen in einem Pub, das William uns ebenfalls empfohlen hatte, montags war es allerdings geschlossen gewesen. Heute sollte es eine Chance bekommen. Die Fuzzy Duck – die fusselige Ente – ist ein Pub der jüngeren Generation. Es ist nicht in dunklem Holz gehalten, sondern hat eine Einrichtung in hellen Farben und mutet vom Stil her eher skandinavisch an. Die Anordnung ist aber ähnlich: eine Bar mit Zapfhähnen und darum herum gruppiert einige Holztische und Stühle.

Die Karte ist ebenfalls etwas jünger und spritziger: Wir entschieden uns für panierten Kabeljau mit Pommes Frites, die typisch englischen Fish and Chips. Dazu bestellte ich wieder einen Cider. Als die freundliche ukrainische Kellnerin mir eine Auswahl nannte, bat ich um eine leichte, fruchtige Variante. Was dann passierte, darüber amüsierten wir uns den ganzen Abend: sie brachte eine Flasche Cider, der mit Mango und Himbeeren aromatisiert war. Das seltsame Getränk, das so schlecht nicht schmeckte, war ein schwedisches Erzeugnis!

Den ruhigeren aber dennoch erlebnisreichen Tag ließen wir gemütlich ausklingen und bereiteten uns gedanklich auf die Weiterfahrt vorbei an Birmingham Richtung Norden vor.