Durch die Yorkshire Dales nach York

Am Morgen hatte der Regen aufgehört. Yorkshire lag wie frisch gewaschen vor unserem Fenster. Die Fahrt durch die unvergleichliche Natur der Dales nach York konnten wir so ganz ungetrübt genießen.

„God´s Own Country“, wie Yorkshire auch genannt wird, war der Schauplatz vieler beliebter Bücher. Neben „Dracula“ auch „Jane Eyre“ und „Sturmhöhe“ der Brontë-Schwestern, die in den düsteren Moorlandschaften Yorkshires spielen. Schon früh verloren die drei Pfarrerstöchter Charlotte, Emily und Anne ihre Mutter und zwei ältere Schwestern. Ihre Tante zog nach Haworth und zog sie und ihren Bruder groß. Die Kinder lebten in ihrer eigenen Phantasiewelt, die später Grundlage ihrer Romane und Gedichte werden sollte. Schon mit 30 Jahren erlag Emily einer Lungenentzündung. Anne starb mit 29 an Tuberkulose und Charlotte wurde mit 39 Opfer eines unbehandelten Schwangerschaftserbrechens. Viele Orte in und um Haworth dienten den Schwestern als Inspiration für ihre Werke. Ihr Geburtshaus in Thornton steht noch und kann besichtigt werden.

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Wenn Maler die Farbe „grün“ studieren wollen, ist diese Gegend der richtige Ort: die Landschaft besteht aus so unendlich vielen Grünschattierungen, dass man sie gar nicht zählen kann. Saftige Wiesen in Lindgrün, so wie wir es von dem ersten Grün der Bäume im Frühjahr kennen, Hecken und Bäume in dunkleren Tönen, von Sonne beschienene Fleckchen und solche, auf die durch Wolken Schatten fällt. Dazu natürlich Schafe: Grasende Schafe, dösende Schafe und Schafe, die einfach in die Landschaft schauen. 15 Millionen Tiere stehen auf britischen Wiesen. Damit hält das Land die größte Schafsherde der Europäischen Union. Auf jeden zweiten Einwohner kommt ein Schaf. Weltweit rangiert Großbritannien auf Platz 25 (zum Vergleich: in Neuseeland kommen auf 1.000 Einwohner weit über 10.000 Schafe, in Deutschland gerade einmal 34).

Es sind spezielle Rassen, die mit dem rauen Klima zurechtkommen. Auf den Anhöhen der Dales waren nur 11 Grad und die Winter können, wie wir gelernt haben, hart und bitterkalt sein.

Neben Grün und Schafen sind auch die vielen grauen Steinmauern charakteristisch für die Landschaft. Scheinbar ohne jegliche Systematik ziehen sie sich durch die Wiesen. Die Steine werden einfach nur aufeinander geschichtet. Mit der Zeit wächst Moos darüber und hält sie zusammen.

Wir passierten Grassington. Der kaum mehr als 1.100 Einwohner zählende Marktflecken im Wharfedale ist typisch für die Dörfer in North Yorkshire.

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Erstmals unter dem Namen Gherinstone erwähnt, steht der Name vermutlich für ein von Gras umgebenes Gehöft. Auch wenn meist von einem Dorf gesprochen wird, erhielt Grassington bereits 1282 Marktrechte. Bis 1860 wurde dort regelmäßig ein Markt abgehalten. Schon im 17. Jahrhundert kam der Ort durch Bleivorkommen zu Wohlstand. Seine Blüte erlebte er jedoch Ende des 18./ Anfang des 19. Jahrhunderts als die Eisenbahn die ersten Touristen brachte. Die Verbindung zu Skipton, wo Kalksteinbrüche entstanden waren, machte das Pendeln möglich und so kamen auch neue Bewohner in den Ort.

Heute laden Geschäfte, Restaurants und Cafés rund um den Kopfstein gepflasterten Marktplatz sowohl Wanderer als auch Durchreisende zum Verweilen im Hauptort des Upper-Wharfedale ein.

Als wir die scenic road bei Bolton Abbey verließen, einem Ort, in dem es abermals eine verfallene Abtei zu besichtigen gab, schwang etwas Wehmut mit.

Wir haben dieses „James-Herriot-England“ ins Herz geschlossen: Seine atemberaubenden Landschaften – Moors, Dales und Peaks mit Heidekraut, Hochmooren, Bergen, Tälern und Wäldern. Dazu Geschichte, die überall fühl- und sichtbar ist – Burgen und Schlösser, herrschaftliche Anwesen und eindrucksvolle Klosterruinen. Neben Rievaulx auch das riesige Castle Howard und die nördlich von Harrogate gelegene Fountains Abbey mit dem Studley Royal Water Garden, die zum UNESCO Weltkulturerbe gehören.

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Man hätte in den drei riesigen Nationalparks wandern oder die Küste erkunden können, die für ihre malerischen Fischerorte bekannt ist und im Sommer Touristen in die Badeorte lockt. Auch die einstigen Industriezentren Sheffield und Leeds, die sich zu quirligen Shoppingparadiesen gewandelt haben, wären sicherlich einen Besuch wert gewesen.

Die Residenzstadt der Grafschaft, die 2000 Jahre alte Universitätsstadt York, wollten wir uns nicht entgehen lassen. Der Reiseführer hob hervor, die Stadt sei unbedingt sehenswert. Habe man nur einen Tag für Nordengland zur Verfügung, so gelte es nach York zu fahren.

Das Wharfedale öffnete sich zu den Niederungen des Vale of York, einem flacheren Gebiet, auf dem Ackerbau vorherrscht.

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York empfing uns im Sonnenschein. Bis in die Neuzeit war York die zweitwichtigste Stadt nach London. In den schottischen Kriegen war sie Stützpunkt der königlichen Armeen. 1175 unterwarf sich der schottische König Heinrich II. Nach der industriellen Revolution wurde York Mittelpunkt des Eisenbahnnetzes. Größte Arbeitgeber während des 19. Jahrhunderts waren neben der Tuchindustrie die Süßwarenhändler. Zwei Familien der puritanischen Quäker gründeten hier Schokoladenfabriken. Heute gehören sie internationalen Lebensmittelkonzernen und der wirtschaftliche Schwerpunkt der 100.000 Einwohner zählenden Stadt liegt bei Dienstleistungen – der Universität und dem Tourismus.

Der Tourismus war es, der York für uns zur Enttäuschung machte. Die Stadt war so voll mit Menschen aus aller Welt, dass man die Einkaufsstraßen mit den historischen Gebäuden kaum richtig sehen, geschweige denn fotografieren konnte. Das vom Reiseführer gepriesene „Betty´s„, ein Café in dem man unglaublich guten Kuchen bekommen soll, glich von der Atmosphäre der Wartehalle eines überfüllten Busbahnhofs. Wie, fragten wir uns, sollte man dort die versprochene „authentisch englische Teekultur“ genießen, wenn man umgeben von Touristen ist? Um überhaupt einen Tisch in dem von Menschen überquellenden Café zu bekommen, hätte man sich in eine lange Warteschlange einreihen müssen, die sich vor dem Geschäft bis auf den davor liegenden Platz wand. Man hätte wohl mindestens eine Stunde anstehen müssen. Wir wühlten uns an der Schlange vorbei, um die Auslagen des angeschlossenen Ladens zu betrachten. Ja, es gab dort das eine oder andere recht hübsch anzusehende Törtchen, doch so phantastisch wie im Reiseführer angepriesen, war das alles nicht. Bereits um 15 Uhr schienen die Auslagen relativ leer gekauft. Wahrscheinlich von den Trupps von Asiaten, die sich mit großen Betty´s Papiertüten durch die Straßen zum Minster schoben. Asiaten haben den Ruf, alles zu kaufen, was teuer ist und einen Namen hat. Das 1919 von einem Schweizer begründete Betty´s hat einen Namen und es ist teuer.

Die nächste Enttäuschung folgte beim majestätisch aus der Stadt herausragenden Münster, eine der größten Domkirchen Europas und eines der bedeutendsten gotischen Bauwerke: der Besuch der Kirche kostete 10 Pfund pro Person. Die meisten Touristen zückten ihr Portemonnaie ohne mit der Wimper zu zucken.

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Wir flüchteten uns in ein Café in einer der Nebenstraßen, wo wir einen mäßigen Cappuccino bekamen und zwei durchschnittlich gute Stückchen Kuchen. Ein gemütlicher Bummel wie in Chester ist hier – wie in vielen europäischen Städten während der Hochsaison – vermutlich nur in den frühen Morgenstunden möglich.

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Über die Humber Bridge in der Nähe von Kingston upon Hull verließen wir Yorkshire und gelangten in die Grafschaft Lincolnshire. Die eindrucksvolle Brücke war 17 Jahre lang die längste Hängebrücke der Welt. Überlegungen zur Querung des Humber gab es schon 100 Jahre bevor 1972 endlich der erste Spatenstich erfolgte. Bis dahin war das Unternehmen stets am fehlenden Geld gescheitert. Erst im Juli 1981 konnte die Brücke feierlich von Queen Elisabeth eröffnet werden. Das Verkehrsaufkommen blieb allerdings unter den Erwartungen. Bis heute haben die Mautgebühren die Baukosten nicht kompensieren können.

In Großbritannien gibt es eine Reihe von gelungenen Public-Private-Partnership-Projekten. Etwa die drei Dartford-Querungen bei London oder die beiden Brücken über den Fluss Severn. Die Humber Bridge ist ein Negativbeispiel: Schon drei Jahre nach ihrer Eröffnung summierten sich die Baukosten von 97 Millionen Pfund zusammen mit den Zinsen auf 209 Millionen. Bis 1995 hatten sich die Verbindlichkeiten mit 435 Millionen Pfund mehr als verdoppelt. Die Regierung musste eingreifen: erst um den Schuldenstand zu stabilisieren und einige Jahre später, um einen Zuschuss für den Unterhalt in Höhe von sechs Millionen Pfund zu gewähren.

So wird die Humber Bridge wohl immer Mahnmal für eine wenig gelungene Mischung aus politischer Zweckmäßigkeit und einem nachlässigen Umgang mit öffentlichen Geldern bleiben.

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Wir konnten mit der Querung der 2,2 Kilometer langen Brücke einen Umweg von 80 Kilometern sparen und erreichten so den östlichen Teil der Midlands.

Zuverlässig leitete uns das Navi durch die flache, überwiegend landwirtschaftlich geprägte Landschaft, die von vielen Getreidefeldern durchzogen war. Außerhalb des 40 Einwohner zählenden Dorfes Norththope, eine halbe Autostunde von Lincoln entfernt, erreichten wir unser B&B, die Grayingham Lodge. Auf der über 120 Jahre alten Farm, die von Feldern umgeben ist, werden heute Schafe gezüchtet.

Herzlich nahm uns Jane auf. „Would you like a cup of tea?“ ist der englische Willkommensgruß schlechthin. Was auch passiert, die „cup of tea“ kann kräftigen nach einer langen, beschwerlichen Reise, sie tröstet über schlechtes Wetter hinweg und hilft, sich in der Fremde schnell einzugewöhnen.

Jane entschuldigte sich für das schreckliche englische Wetter (obwohl es gar nicht schrecklich war). Noch vor dem Angebot, einen Tee zu nehmen, ist das Wetter stets Thema. Ob gut oder schlecht, man unterhält sich ausführlich darüber. Wir haben uns angewöhnt, das Bedauern über die Witterung mit dem Hinweis auf unsere Herkunft abzuwiegeln: Wir kommen aus Norddeutschland, wir sind schlechtes Wetter gewöhnt. Das hilft den Gesprächspartnern, sich zu entspannen und prompt hellen auch ihre Mienen wieder auf.

Nach dem Austausch der vielen Höflichkeiten zeigt man uns das Zimmer, erklärt ausführlich, wie alles funktioniert und fragt dann nochmals, ob wir wirklich keine Tasse Tee haben wollen. Dieses Angebot sollte man ablehnen, auch wenn das Gegenüber weiter insistiert. In einem Fall hatten wir es angenommen und saßen dann etwas verloren in einem Wohnzimmer, das mit hellem, hochflorigem Teppichfussboden ausgelegt war, der so gar nicht zu unseren Turnschuhen passte. Die Gastgeberin brachte den Tee, forderte uns auf, uns zu nehmen und verschwand. Erst eine ganze Weile später gesellte sie sich dazu. Der Smalltalk war zäh, wir fühlten uns deplaziert und von dem Ehemann, der uns am herzlichsten ins Haus eingeladen hatte, fehlte jede Spur. Wir schütteten unseren Tee hinunter und sahen zu, in unser Zimmer zu kommen.

Niemand weiß, warum die Engländer nicht sagen, was sie meinen. Weshalb sie einen so nötigen, ihre Gastfreundschaft in Anspruch zu nehmen. Man muss das Spiel kennen und es mitspielen. „It is so kind of you“, flötet man in den höchsten Tönen und denkt sich irgendeine Ausrede aus.

Überhaupt sind „bitte“ und „danke“ die wichtigsten Vokabeln. Dazu noch „I am sorry“. Man entschuldigt sich ständig, auch für Dinge, für die man gar nichts kann. Weicht einem ein Autofahrer aus und man hebt zum Dank die Hand, dann kann man sicher sein, dass der andere es ebenfalls tut. Kellnerinnen bedanken sich, wenn sie eine Bestellung aufgenommen haben und wenn sie einem das Essen bringen. Ein „thank you ever so much“, das in unseren Ohren übertrieben klingt, ist hier niemals unangebracht.

Bei Lachsfilet im The Inn on the Green im nahen Ingham, das Jane uns empfohlen hatte, ging ein langer Tag zu Ende.

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Es seien die Sonnenuntergänge über dem weiten, flachen Land, die sie am meisten vermisse, wenn sie eine Weile im Ausland sei, hatte Jane uns verraten. Auf unserer Rückfahrt zur Lodge konnten wir nachvollziehen, was sie meinte.

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Die Stimmung machte wehmütig. Unsere letzten Tage in England waren angebrochen.

4 Gedanken zu “Durch die Yorkshire Dales nach York

  1. lecw 6. Januar 2018 / 17:07

    Hallo!
    Eben habe ich euren interessanten Blog entdeckt. Da werde ich mich in den nächsten Tagen mal durchlesen. Toll, dass es noch andere Nordengland-Fans gibt!
    Herzliche Grüße
    Steffi vom lecw.blog (Land’s End to Cape Wrath

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    • vierzehntage 6. Januar 2018 / 19:02

      Vielen Dank für das nette Feedback. Ich bin leider mit dem Schreiben etwas in Verzug geraten. Die letzten beiden Tage unserer Reise folgen demnächst …

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